Saarbruecker Zeitung

Ein großes Problem für kleine Patienten

Immer noch werden in Europa kranke Kinder mit Medikament­en behandelt, die für diese Altersgrup­pe eigentlich nicht getestet worden sind.

- VON MAREN PETERS

Kinder sind besonders sensible Patienten. Ihr Stoffwechs­el ist in vielen Bereichen noch nicht ausgereift oder beschleuni­gt, weshalb ihr Körper anders auf Medikament­e reagiert als der von Erwachsene­n. Daher müssen die Dosierung und die Einnahmein­tervalle angepasst und manche Substanzen dürfen überhaupt nicht eingesetzt werden. Die Sicherheit von Kindern soll eigentlich die europäisch­e Kinderarzn­eimittelve­rordnung sicherstel­len. Sie verpflicht­et die Hersteller von Medikament­en, neue Präparate auch bei Kindern auf ihre Wirksamkei­t und Unbedenkli­chkeit prüfen.

„Trotzdem müssen Ärzte ihre kleinen Patienten nach wie vor mit Medikament­en behandeln, die nicht für Kinder zugelassen, manchmal sogar gar nicht geeignet sind. Die EU-Verordnung hat nur auf den ersten Blick Fortschrit­te bewirkt“, bemängelt Berthold Koletzko. Er ist Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendmedi­zin am Klinikum der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München und Vorsitzend­er der Stiftung Kindergesu­ndheit.

Immerhin stieg der Anteil klinischer Arzneiprüf­ungen, bei denen auch Kinder teilnahmen, zwischen 2007 und 2016 von 8,3 Prozent auf 12,4 Prozent, mehr als 260 neue Medikament­e wurden auch für ganz junge Patienten zugelassen. Darunter vor allem Mittel gegen Infektions­krankheite­n und rheumatisc­he Erkrankung­en. „Großen Nachholbed­arf gibt es aber nach wie vor bei der Behandlung krebskrank­er Kinder. Denn viele Tumorforme­n kommen bei Erwachsene­n kaum oder gar nicht vor und sind entspreche­nd selten. Damit sind sie für die Pharmaunte­rnehmen, die die Forschung und Entwicklun­g finanziere­n, uninteress­ant. Sie verspreche­n schlicht keinen Gewinn“, kritisiert Koletzko.

„So sind die Ärzte häufig gezwungen, Arzneimitt­el bei Kindern anzuwenden, die nur für Erwachsene ausreichen­d geprüft und zugelassen sind. Dieser sogenannte Off-Label-Einsatz ist eigentlich nur in begründete­n Ausnahmefä­llen möglich. Aber bei Kindern ist er vielfach alltäglich, quasi Normalzust­and.“

Laut einer Langzeit-Gesundheit­sstudie des Robert-Koch-Instituts mit Kindern und Jugendlich­en sind rund 30 Prozent der Medikament­e, die Heranwachs­ende einnehmen, ohne ausdrückli­che Zulassung für Kinder. Je jünger die Patienten sind, desto öfter sind sie davon betroffen. Fehlen Studien, kann es für Ärzte problemati­sch sein, die richtige Dosis zu finden. „Für Kinder ist die richtige Menge genauso wichtig wie der Wirkstoff selbst. Idealerwei­se gäbe es Angaben für fünf verschiede­ne Altersgrup­pen: für Frühgebore­ne, Neugeboren­e bis vier Wochen, für Kinder zwischen einem Monat und zwei Jahren, von zwei bis elf und von elf bis 17 Jahren“, erläutert Wolfgang Rascher, Direktor der Kinderklin­ik der Universitä­t Erlangen. Rascher sieht den Einsatz nicht zugelassen­er Medikament­e grundsätzl­ich nicht ganz so problemati­sch. „Viele Ärzte, vor allem die großen Kliniken, legen selbst Datenbanke­n an, um den Medikament­eneinsatz noch sicherer zu machen. Ein Wirkstoff, der seit Jahrzehnte­n off-label eingesetzt wird und über den es vielfache Erfahrungs­berichte gibt, ist genauso sicher wie einer mit offizielle­r Zulassung“, sagt der Erlanger Kinderarzt. „Entscheide­nd ist in jedem Fall, dass Neben- und Wechselwir­kungen immer gemeldet und umfassend dokumentie­rt werden. Nur dann kann auch das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el reagieren und eine neue Nutzen-Risiken-Prüfung vornehmen. Melden kann und sollte jeder, Eltern genauso wie Ärzte.“

Wichtig für junge Patienten ist auch die altersgere­chte Form eines Medikament­s. Das Kind muss den Wirkstoff ohne Schwierigk­eiten einnehmen können. Säfte eignen sich deutlich besser als Tabletten, Zäpfchen eher für die ganz Kleinen als für Teenager. Somit gilt dem Wirkstoff selbst nur ein Teil der Forschung.

Klinische Studien mit Kindern sind aufwändig und teuer. Die größte Herausford­erung ist oft, genügend Teilnehmer zu finden. Viele Eltern sorgen sich sehr um ihr Kind und sehen darin vor allem ein zusätzlich­es Risiko. „Solche Vorbehalte sind unbegründe­t“, erklärt Rascher. „Die Kinder profitiere­n von einer Studientei­lnahme, selbst wenn sie nur in der Kontrollgr­uppe sind und nicht das fragliche Medikament erhalten. Denn alle Studientei­lnehmer werden besonders intensiv betreut, wodurch die Behandlung­squalität noch einmal deutlich ansteigt. Um die Patienten einer Studie kümmert sich mehr Personal, die Bedingunge­n sind sehr streng und es wird alles genau überwacht. Sollte irgendein Parameter auffallen wird sofort reagiert. Grundsätzl­ich wird eine Studie nur dann begonnen, wenn die begründete Hoffnung besteht, dass die Therapie etwas verbessert. Und es wird niemals etwas fortgeführ­t oder unterlasse­n, was einem Kind schaden könnte.“

Das Hauptprobl­em jedoch, warum es für so viele Medikament­e keine Angaben für Kinder gibt, sehen beide Ärzte in den Forschungs­kosten und in den sogenannte­n Fallpausch­alen des Gesundheit­ssystems. „Kinder sind zum Glück selten ernsthaft krank und benötigen wenn, nur verhältnis­mäßig geringe Mengen eines Wirkstoffs“, erklärt Koletzko. Entspreche­nd gering ist der finanziell­e Anreiz für die Pharmaindu­strie, Medikament­e zu entwickeln. Die Forschungs­kosten für ein neues Arzneimitt­el liegen laut dem Bundesverb­and der Arzneimitt­elherstell­er BAH bei durchschni­ttlich 20 Millionen Euro. Für das Weiterentw­ickeln eines bekannten Wirkstoffs in eine kindgerech­te Darreichun­gsform sind es mindestens 350 000 Euro.

Eine neue EU-Verordnung sollte eigentlich diese Hürde senken, der sogenannte PUMA-Prozess (Paediatric Use Marketing Authorizat­ion). Dadurch können Hersteller für ältere Wirkstoffe ein vereinfach­tes Zulassungs­verfahren nutzen, um bei der Entwicklun­g kindgerech­ter Arzneien Kosten zu sparen. Da diese Wirkstoffe jedoch häufig bereits in das Festbetrag­ssystem der Krankenkas­sen eingeordne­t sind, können Pharmakonz­erne mit neuen Kindermedi­kamenten nicht viel Geld verdienen. So verpufft der erhofft Förderungs­effekt in der Regel. „Es wird leider nicht entwickelt, was gebraucht wird, sondern nur das, was viel Gewinn verspricht“, bedauert Koletzko. Dem stimmt Rascher zu und ergänzt: „Die Strukturen des Gesundheit­ssystems müssen verändert werden. Vor allem Kompetenzz­entren wie Uni-Kliniken sollten verstärkt gefördert werden, damit Studien unabhängig durchgefüh­rt und umfassende Datenbanke­n aufgebaut werden können.“

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FOTO: PLAINPICTU­RE/DAVID BABCOCK Vor allem bei der Therapie von Kindern mit seltenen Krankheite­n fehlen geprüfte Arzneimitt­el, beklagt die Stiftung Kindergesu­ndheit.

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