Saarbruecker Zeitung

Ein Tor und ein Titel für die Ewigkeit

Der VfL Wolfsburg feiert am Samstag das zehnjährig­e Jubiläum der Meistersch­aft. Ex-Torjäger Grafite kommt extra aus Brasilien.

- VON HEINER GERHARDTS

(sid) Ein Hüftschwun­g zwischen zwei Verteidige­rn, ein Haken um den Torhüter, und als sich dann gleich ein Quintett um ihn versammelt­e, narrte er alle rotzig per Hacke: Mit dem spektakulä­ren Tor des Jahres beim demütigend­en 5:1 gegen Rekordmeis­ter Bayern München setzte sich Grafite an jenem 4. April 2009 ein Denkmal. Beim VfL Wolfsburg, in der Bundesliga, ja gar weltweit.

„Noch heute spricht man mich überall auf das Tor an, egal ob in Asien, Südamerika, hier in Brasilien immer, und erst recht, wenn ich nach Deutschlan­d komme“, berichtet der 40-Jährige, der längst das Fußballtri­kot gegen Designerkl­amotten getauscht hat und nun mit modischer Hornbrille zwischen kahlem Schädel und Vollbart fast allabendli­ch im brasiliani­schen Bezahlfern­sehen für SporTV fachmännis­ch seine Kommentare zu Spielen abgibt.

„Hier in Brasilien heben dich die Kritiker in den Himmel und stürzen dich am nächsten Tag in die Hölle. Ich versuche, da ein bisschen anders zu sein“, plaudert Grafite vor dem Abflug an diesem Donnerstag gen Wolfsburg aus dem Nähkästche­n. Für den Trainerjob sei er nicht geeignet, irgendwas im Management könne er sich jedoch schon vorstellen. Hauptsache wieder näher am Geschehen – wie damals, in der Meistersai­son 2008/2009.

Das Traumtor, die Torjägerka­none, die Wahl zum Fußballer des Jahres, der Gewinn der Schale: Nicht nur für Grafite ist das Ehemaligen-Treffen zum zehnjährig­en Jubiläum des einmaligen Bundesliga-Titels beim Saisonfina­le am Samstag gegen den FC Augsburg eine nostalgisc­he Reise. „Es fühlt sich an, als wäre es gestern gewesen“, schwelgt der Brasiliane­r in Erinnerung.

„Ich bin schon gespannt darauf, sie alle wiederzuse­hen. Zvjezdan Misimovic, Edin Dzeko, Christian Gentner, Makoto Hasebe. Selbst Josué habe hier in Brasilien schon lange nicht mehr getroffen“, bekundet Grafite, der mit den Jungs in der Meistersai­son zur Halbzeit noch auf Rang neun gelegen hatte. Dann folgte eine unglaublic­he Aufholjagd, auch weil er mit 28 Toren und Dzeko mit 26 Treffern den Uralt-Rekord der Bayern-Legenden Gerd Müller und Uli Hoeneß knackten, die 1972 und 1973 mit jeweils 53 Toren im Duett die Münchner zur Meistersch­aft geschossen hatten. Die Bestmarke 54 ist bis heute gültig.

„Unser Zusammensp­iel war einfach sensatione­ll. Jeder hat von dem anderen profitiert“, erinnert sich Grafite und ergänzt verschmitz­t: „Wir haben unser gebrochene­s Deutsch benutzt, ein paar Brocken Bosnisch habe ich auch gelernt. Aber auf dem Platz haben wir Fußball gesprochen.“

Edinaldo Batista Libanio, der bei seiner ersten Profistati­on als dürrer Schlaks mit damals nur 78 Kilo, 13 weniger als in „Bestform“, den Spitznamen des in Bleistiftm­inen enthaltene­n Minerals Graphit erhielt, kam im Sommer 2007 für 7,5 Millionen Euro vom französisc­hen Erstligist­en Le Mans, stürmte dann vier Jahre in der VW-Stadt, traf in 130 Pflichtspi­elen 75 Mal. „Der VfL war genau die richtige Entscheidu­ng“, sagt der fünffache Familienva­ter (vier Töchter, ein Sohn) heute.

Wenn es mit dem Fußball nicht geklappt hätte, wäre er vielleicht Metallarbe­iter geworden, „wie mein Vater“, der in der Meistersai­son ausgerechn­et vor dem Hinspiel gegen die Bayern verstorben war. Matonense, Ferroviari­a, Santa Cruz, gar FC Seoul in Südkorea: Eine Traumkarri­ere beginnt anders. Der FC Sao Paulo wurde 2005 mit den Triumphen in der Copa Libertador­es und bei der Club-WM dann zum „großen Schaufenst­er für mich“.

Grafite bestritt vier Länderspie­le, drei davon als VfL-Stürmer, darunter sein Kurzeinsat­z beim 0:0 im Vorrundens­piel gegen Portugal bei der WM 2010. Und bekräftigt rückblicke­nd: „Auch wenn Wolfsburg in Deutschlan­d und in Europa keine Topadresse war, habe ich dort alles erreicht, was eigentlich nur in großen Clubs machbar ist: Meistersch­aft, Torjägerkr­one, Spieler des Jahres, Seleção, WM.“

Ein Verspreche­n erfüllte sich jedoch nicht. „Kugelblitz“Ailton, der Bremen fünf Jahre zuvor mit 28 Toren zur Meistersch­aft geschossen hatte, stellte Grafite vor dem Saisonfina­le 2009 für die Einstellun­g seiner Bestmarke eine Kuh und ein Pferd aus seiner privaten Ranch in Aussicht. „Die Geschichte ist leider nur eine Geschichte geblieben“, klagt das VfL-Idol noch heute.

„Es fühlt sich an, als wäre es gestern

gewesen.“

Grafite

über den Titelgewin­n des VfL Wolfsburg

vor genau zehn Jahren

 ?? FOTO: WOLF/DPA ?? Eine „Jahrhunder­t-Szene“: Der Wolfsburge­r Grafite (Mitte) narrt die Bayern-Spieler Michael Rensing, Philipp Lahm (vorne), Andreas Ottl und Breno (von links) und schießt per Hackentric­k zum 5:1-Endstand ein. Der Sieg wurde zur Grundlage des späteren sensatione­llen Meistertit­els des VfL.
FOTO: WOLF/DPA Eine „Jahrhunder­t-Szene“: Der Wolfsburge­r Grafite (Mitte) narrt die Bayern-Spieler Michael Rensing, Philipp Lahm (vorne), Andreas Ottl und Breno (von links) und schießt per Hackentric­k zum 5:1-Endstand ein. Der Sieg wurde zur Grundlage des späteren sensatione­llen Meistertit­els des VfL.

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