Saarbruecker Zeitung

Auf Wanderscha­ft ohne Google Maps

„Kluft und Haut“ist der Titel einer aktuellen FotoSchau im Pingusson-Bau in Saarbrücke­n. Sie zeigt junge Menschen auf der Walz – nackt und in traditione­ller Arbeitskle­idung.

- VON ESTHER BRENNER

Wer hat sie nicht schon mal gesehen, die kurios gekleidete­n Gestalten in altmodisch­er Handwerker­kleidung mit weiten Schlaghose­n, Silberknöp­fen, Hut und Bündel, Werkzeug und manchmal auch einem Wanderstab? Sie wirken wie aus der Zeit gefallen – und in der Tat gibt es nur noch rund 500 junge Menschen, die sich nach ihrer Handwerksl­ehre alljährlic­h auf die so genannte Walz machen, besitz- und wohnungslo­s durchs Land ziehen, immer auf der Suche nach ein paar Tagen Arbeit, einer Unterkunft, einer Mahlzeit. Maximal für drei Jahre und einen Tag wandern sie durch Deutschlan­d, Europa, sogar durch die ganze Welt. Sie achten dabei strenge Regeln: Handys sind tabu, Vorstrafen gehen gar nicht. Ledig sollen sie sein, sich vom Heimatort fernhalten in dieser Zeit, um nur einige zu nennen. Die Walz ist also nichts für Ängstliche. Sie ist ein Abenteuer.

Die Berliner Zwillingsb­rüder Benjamin und Dominik Reding (50) waren so fasziniert von dieser jahrhunder­tealten Tradition dass sie diese jungen Menschen vor die Kamera holen wollten. In ihrer Kluft – und nackt. Warum? Weil es die Konvention­en und Sehgewohnh­eiten auf den Kopf stellt. Die Walz ist längst keine reine Männersach­e mehr und so sind sieben Frauen unter den Portraitie­rten.

Die Walz – da kommt bei vielen ein romantisch­es, traditione­lles Heimatgefü­hl auf. Hier setzen die Reding-Brüder an, die auch Filmemache­r und Drehbuchau­toren sind und 1999 beim Max-Ophüls-Filmfestiv­al den Preis des Ministerpr­äsidenten für „Oi!Warning“gewannen: Da der Begriff „Heimat“von rechtsnati­onalen politische­n Strömungen in jüngster Zeit regelrecht gekapert wurde, um Fremdenhas­s zu schüren, wollen sie mit ihren provokante­n, ironischen Bildern ein Zeichen gegen eben diese Vereinnamu­ng setzen. „Die Schau zeigt wache, junge Menschen, bei denen der Gedanke der Völkervers­tändigung, des vorurteils­freien Kennenlern­es fremder Kulturen gelebte Wirklichke­it ist“, sagt Fotograf Benjamin Reding, der die meisten in seiner Berliner Kneipe kennen- und schätzenle­rnte. Denn wer auf Wanderscha­ft geht, kommt zwangsläuf­ig mit vielen Menschen aus ganz verschiede­nen Kulturkrei­sen in Kontakt, braucht Toleranz, Offenheit und Mut. Und weil die Wandergese­llinnen und -gesellen mutig und risikofreu­dig sind, haben sie sich tatsächlic­h vor der Kamera ausgezogen.

Seht her, wir leben beides, scheinen die Porträtier­ten uns sagen zu wollen: Die Tradition und ein modernes, freizügige­s Leben. Und so sieht man junge Menschen in traditione­ller Kluft und daneben die selben mit ihren Piercings und Tattoos, wie sie ihren Körper selbstbewu­sst,

„Walz kann man nicht googeln, die muss

man erleben.“

Juli

Steinbildh­auer-Gesellin

aber nie peinlich zur Schau stellen. Nüchtern, fast hyperreali­stisch hat Benjamin Reding sie vor weißem Hintergrun­d abgelichte­t. Den Humor bringen die Porträtier­ten selbst mit. Bootsbauer­in Marie-Odile (24) zum Beispiel zeigt nackt ihren Bizeps. Tischlerin Steffi (23) trägt auf ihrem Porträt in Kluft lieber einen Rock statt eine Hose. Martin (32), der Glaser, dreht uns den Rücken zu. Der Tischler Jakob (21) lässt auf seinem Nacktfoto einfach die hohen Stiefel an. Mal ernst, dann schmunzeln­d, sogar trotzig blicken diese Typen in die Kamera. Es ist eine Freude, die Fotos zu betrachten, auch wenn sie künstleris­ch nicht spektakulä­r sind.

Dass die Fotografie­n jeweils mit einem eigenen Kommentar der 20 Porträtier­ten versehen sind, macht gibt der Schau eine persönlich­e Note, macht sie dokumentar­isch. Zu sehen sind Menschen, die mit ihren ungewöhnli­chen Wanderscha­ften beeindruck­en, sich wie Exoten in dieser schnellen, digitalen Welt bewegen und gerade deshalb so interessan­t sind. Viele Gesellen waren am Freitagabe­nd in Kluft zur Ausstellun­gseröffnun­g gekommen. Thomas zum Beispiel „kommt grade aus der Schweiz“und fährt weiter nach Indien, erfährt man auf dem auf dem Boden angebracht­en Kommentar vor seinen Bildern. Und Hans-Bert, Schlosser, fasst zusammen, was für alle gilt: „Die geilsten Sachen passieren, wenn man da landet, wo man gar nicht hinwollte.“Von der Bootsbauer­in über den Polsterer, von den Zimmerleut­en bis zu den Bäckern, allen steht sowohl die Kluft als auch die nackte Haut gut. Dass man sich aus Protest gegen Fremdenfei­ndlichkeit nackt auszieht ist zwar gut gemeint, aber vielleicht doch ein bisschen weit hergeholt. Wie diese zur Schau gestellte Nacktheit mit Konvention­en bricht, macht aber großen Spaß – und man erfährt viel über die Walz.

„Kluft und Haut“schlägt damit nicht nur eine Brücke zwischen Tradition und Moderne, sondern auch zwischen Handwerk und Kunst. Dass das Handwerk im Pingusson-Bau eine solche exquisite, denkmalges­chützte Bühne erhält, dürfte auch die Handwerksk­ammer gegenüber freuen, die sich bald mit einem Neubau auf dem Parkplatz des Pingusson-Baus vergrößern wird. Dass Kulturmini­ster Ulrich Commerçon (SPD) die Eröffnung der Ausstellun­g nutzte für einen weiteren Appell, das umstritten­e Denkmal zu erhalten statt abzureißen, versteht sich von selbst.

Die Ausstellun­g läuft bis 31. August. Geöffnet.Di-So 11-18 Uhr. Ab September ist sie im Museum Lüneburg zu sehen, anschließe­nd geht sie ins Germanisch­e Nationalmu­seum in Nürnberg.

 ?? FOTO: IRIS MAURER ?? Blick in die Schau „Kluft und Haut“, durch die der denkmalges­chützte Pingusson-Bau (ehemaliges Kulturmini­sterium) für kurze Zeit zugänglich ist.
FOTO: IRIS MAURER Blick in die Schau „Kluft und Haut“, durch die der denkmalges­chützte Pingusson-Bau (ehemaliges Kulturmini­sterium) für kurze Zeit zugänglich ist.

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