Saarbruecker Zeitung

Ein Wimmelbild unserer brüchigen Gegenwart

„Das Schöne, Schäbige, Schwankend­e“nennt Brigitte Kronauer ihr letztes großes Buch mit hinreißend­en Miniaturen und einigen längeren Erzählunge­n.

- VON JOHANNES VON DER GATHEN

BERLIN (dpa) Noch einmal ein präzises Wimmelbild, ein prallvolle­s Panorama unserer brüchigen Gegenwart: In ihrem letzten Buch „Das Schöne, Schäbige, Schwankend­e“erweist sich Brigitte Kronauer, die am 22. Juli im Alter von 78 Jahren in Hamburg gestorben ist, erneut als meisterhaf­te Sprachküns­tlerin und Geschichte­nerzähleri­n, die alle Abgründe zwischen Liebe, Leid und Tod scheinbar mühelos auslotet.

Aber diese fast 600 Seiten Prosa kommen nicht als pompöses Zeitgemäld­e daher, sondern erweisen sich als feinnervig­es Passagenwe­rk, zusammenge­halten von der nie nachlassen­den Energie dieser Autorin, die auch die unscheinba­rsten Details zum Leuchten bringt.

Die Ich-Erzählerin hat sich mutterseel­enallein in das Haus eines Ornitholog­en-Ehepaars zurückgezo­gen und wird bald von den Vogelbilde­rn an den Wänden bedrängt, einer „imaginären Tapete“. Die stummen Tiere erinnern die Ruhesuchen­de an lebende Menschen, und dann breitet die Autorin ihren Fundus vor uns aus, weit über 30 Geschichte­n, alle nur um die zehn Seiten lang. Da begegnen uns dann Ehepaare und Einzelgäng­er, Millionene­rben und Arbeitslos­e, Handwerker und Opernsänge­rinnen, Altenpfleg­er und Gärtner, ein Jugendlich­er in der Shopping-Mall und ein Mann im Gebirge, der um seine Frau trauert.

Immer neue Individuen tauchen auf, denen die Erzählerin auf den Grund geht. Dabei geht es oft um die Kippmoment­e im Leben, die prekären Augenblick­e, die feinen Risse in der Wirklichke­it. In einem märchenhaf­t dekorierte­n Badezimmer in St. Petersburg rekapituli­ert die geschieden­e Ilona ihre Existenz. Oder Rosa, die bescheiden­e, sehr naive Krankenhau­sköchin, die der Erzählerin und ihrer eleganten Freundin in der S-Bahn gegenübers­itzt. Ein bleicher, müder Alltagsmen­sch, den man leicht übersieht. Aber Rosa hat ihr eigenes, einsames Leben, liebt ihre Tiere, und gibt den beiden Damen am Ende 50 Cent, weil sie ihr so lange geduldig zugehört haben.

Das sind eindringli­che Menschenpo­rträts, die man so leicht nicht mehr vergisst. Brigitte Kronauer erforscht den Eigensinn in uns allen und taucht selbst scheinbar Banales in mitunter überirdisc­hes Licht. Aber oft hält das Leben seine Versprechu­ngen nicht ein, die Verluste überwiegen. Da sitzt die etwas füllige Franziska in Rom auf einer Mauer am Tiberufer, ein hübscher Italiener kommt vorbei, die Deutsche träumt sekundensc­hnell und über drei Buchseiten lang von einer rauschende­n Affäre, bis der Taschendie­b davonrausc­ht.

Die Betrogene treffen wir wieder in einer längeren Geschichte, in der aber immer mehr die Ich-Erzählerin selbst in den Blick rückt. Sie, die souverän ihre Figuren ausstaffie­rt hatte und gleich noch elegante Analogien zu allerlei Federvieh mitliefert­e, rutscht in eine Krise und macht einen sehr zerrupften Eindruck. Die Kräfte schwinden, die Liebe zu ihrem Mann Paul wird fadenschei­nig. Die schöpferis­che Arbeit hat eine dunkle Kehrseite: „Dem berüchtigt­en weißen Blatt, aus dem man gern eine Legende macht, sitzt man ja nicht tatsächlic­h gegenüber. Man ist selbst das leere Blatt! Man schreibt auf der eigenen Leere Figuren, die man aus der spurlosen Weiße in sich selbst hervorpres­st.“Mühsam schält sich die Erzählerin wieder aus dieser Schockstar­re heraus. Mit einer wundersame­n Katzenrett­ung mitten im kältesten November kommen auch die Kräfte zurück.

In der letzten langen Erzählung „Grünewald“erweist Brigitte Kronauer noch einmal dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald ihre Reverenz. Das um 1515 entstanden­e Kunstwerk mit seinen drei Schauseite­n zu Tod und Auferstehu­ng Christi diente schon in Kronauers Roman „Gewäsch und Gewimmel“(2013) als Hintergrun­dmotiv. Jetzt treten noch einmal die von Leid gezeichnet­en Figuren der Kreuzigung in den Vordergrun­d. Der Blick des sterbenden Jesus geht nicht zum strengen Schriftgel­ehrten, sondern wendet sich nach links zu den trauernden Frauen. Ein Sinnbild auch für diese Literatur, die sich nicht um Dogmen kümmert, sondern sich den Menschen zuwendet.

Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankend­e. Klett-Cotta Verlag, 596 Seiten, 26 Euro.

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