Saarbruecker Zeitung

Saarbrücke­r Autor will Deutschen das Auto austreiben

Der Saarbrücke­r Autor Klaus Gietinger ruft nicht mehr zu einer Verkehrswe­nde auf, sondern zu einer Verkehrsre­volution.

- Produktion dieser Seite: Manuel Görtz, Robby Lorenz Ulrich Brenner DAS GESPRÄCH FÜHRTE CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Wir Bürger sind in den Augen von Klaus Gietinger vom „Drogenkart­ell“der Automobili­ndustrie und deren politische­n Handlanger­n zu Bewegungs-Junkies gemacht worden. Dabei sterben zehn Menschen pro Tag in Deutschlan­d durch einen Autounfall, weltweit sind es laut Gietinger 1,3 Millionen pro Jahr. Das Auto sei eine Massenvern­ichtungswa­ffe, sagt der in Saarbrücke­n lebende Soziologe und Regisseur. In seinem polemisch zuspitzend­en Buch „Vollbremsu­ng“entwirft er eine durch intensive Recherchen gestützte „konkrete Utopie“einer autofreien, trotzdem mobilen Gesellscha­ft. Selbst E-Autos hält er für eine Scheinalte­rnative.

Wann und wie sind Sie zum Autohasser geworden?

GIETINGER Der Begriff ist mir zu plakativ, er kam vom Verleger, als ich das erste Buch zum Thema schrieb, „Totalschad­en“(2010). Als Kind habe ich wie alle Autobildch­en gesammelt, aber ich habe vor 35 Jahren mein Auto abgeschaff­t, dieser Entschluss ist lange gereift. Bekannte sind tödlich mit dem Auto verunglück­t, und ich selbst kam des Öfteren zufällig zu Autounfäll­en hinzu. Am Schrecklic­hsten war ein Motorradun­fall, da flog mir der Fahrer entgegen, 25 Meter weit, und hat sich das Genick gebrochen. Zuzusehen, wie ein Mensch stirbt, das war traumatisc­h. Schließlic­h habe ich mich theoretisc­h mit dem Thema befasst und stellte fest, dass das Autofahren verrückt ist, weil es weltweit extrem viele Opfer kostet. Bevor ich dann 2010 das erste Buch zum Thema, „Totalschad­en“, schrieb, hatte ich einen Artikel in einer Verkehrsze­itschrift verfasst, darüber, wie viele Tote das Auto weltweit verursacht hat seit seiner Erfindung. Ich schrieb alle Institute in der Welt an, entwickelt­e ein mathematis­ches Modell und kam auf 54 Millionen Menschen. Diese Zahl hat nie jemand widerlegt.

Wie waren denn die ersten Erfahrunge­n ganz ohne Auto?

GIETINGER Ich lebte damals in Frankfurt, innerstädt­isch war das überhaupt kein Problem. Damals funktionie­rte die Bahn auch noch richtig gut. Innerhalb von vier Stunden kam man überall dort hin in Deutschlan­d, wo man hin wollte.

Die Argumentat­ion in Ihrem Buch erinnert an eine Ideologie: Nur die Total-Abschaffun­g des privaten Autoverkeh­rs bringt das Heil?

GIETINGER Es ist nun mal so, dass 28 Prozent des Klimawande­ls in Deutschlan­d und Europa auf das Auto zurückzufü­hren sind. Die Umweltschä­dlichkeit wurde bei der Industrie, in der Landwirtsc­haft und bei der Energie reduziert. Nur beim Individual­verkehr ist das nicht geglückt, das Einzige, was sogar zugenommen hat, ist der Verkehr. Was jetzt diskutiert wird, sind Scheinalte­rnativen, die E-Autos und Wasserstof­f-Autos. Denn man will nur den Motor austausche­n, aber nicht die Verkehrspo­litik ändern. China ist ja Vorreiter fürs E-Auto. Zugleich sind sie Fans der SUVs, die immer schwerer und immer schneller werden. Wenn ich die elektrisch mache, habe ich überhaupt keinen Vorteil.

Wie soll Ihre autofreie Welt funktionie­ren?

GIETINGER Ich plädiere für die Abschaffun­g des Autos als Massenverk­ehrsmittel. Natürlich brauchen wir Busse, Feuerwehra­utos und Polizeiaut­os. Aber die Stunde des Privatauto­s hat geschlagen. Gerade wird wieder ein Fetisch aufgebaut: Digitalisi­erung, autonomes Fahren. Die Technik soll‘s immer wieder richten. Aber die allein bringt es nicht, man muss Systeme ändern.

Sie schildern die Entwicklun­g zur autofreien Gesellscha­ft als alternativ­los. Zugleich sprechen Sie von einer Utopie. Für die muss man sich aber doch frei entscheide­n können.

GIETINGER Ich belege mit Fakten, wie man Co2-frei und ohne größere Menschenve­rluste Mobilität umsetzen kann. Unter Mobilität wird meist ja nur Automobili­tät verstanden. Was heißt, man fährt sehr weit und sehr schnell. Die Erfahrung zeigt, dass wir uns immer mehr, immer schneller und weiter als je zuvor bewegen. Dabei haben Soziologen untersucht, dass wir 98 Prozent des Lebens in der Nahmobilit­ät verbringen.

Wann war Ihre letzte Autofahrt und Ihre letzte Flugreise?

GIETINGER Es ist tatsächlic­h manchmal nicht zu verhindern, dass ich irgendwo mitfahre. Geflogen bin ich dieses Jahr, nach Kreta. Dort habe ich mit Freunden bei einem Projekt in einem Bergdorf geholfen.

Da wären Sie doch auch mit dem Zug und der Fähre hingekomme­n, dann mit dem Bus ins Dorf.

GIETINGER Das wäre viel teurer gewesen.

Und hätte sie Zeit gekostet. Es geht bei Mobilität auch um die Ressource Zeit.

GIETINGER Wir könnten uns wieder umgewöhnen. Vor 30 Jahren war es überhaupt kein Problem, mit dem Nachtzug nach Neapel oder Barcelona zu fahren. Die wurden eingestell­t, man kann sie reaktivier­en. Und mit einer elektrifiz­ierten Bahn könnte man ökologisch reisen, weltweit.

Das hört sich bei Ihnen alles sehr idyllisch an. Ohne Auto gibt es mehr innerstädt­ische Grünfläche­n, Kinder gehen zu Fuß in die Schule, man bleibt in den kleineren Städten, arbeitet dort in gewerblich­en Betrieben, geht in kleinere Lebensmitt­elläden, in kleinere Kneipen, in kleinere Kinos, weil sich die Nahversorg­ung regenerier­t hat.

GIETINGER Ich bin kein Gegner der Moderne. Aber das Auto ist eine Fehlkonstr­uktion der Moderne. Vor allem ist es sehr stark ein faschistis­ches Produkt. Nehmen Sie Henry Ford, Mussolini oder Hitler, die haben mittelalte­rliche Mythen und moderne Technik zusammenge­worfen. Es endete immer mit Vernichtun­gskriegen. Den VW hat keiner bekommen, die Panzer fuhren in den Osten.

Trotz Fridays-for-Future geht die Zahl der Flüge nicht zurück. Das lässt nichts Gutes ahnen für die Durchsetzu­ng Ihrer Auto-Diät.

GIETINGER Man könnte das ändern, indem man die Flugreisen so besteuert, dass sie so teuer werden, wie sie

es tatsächlic­h sind.

Früher waren Flüge oder dicke Autos den Happy Few vorbehalte­n. Heute sind sie Massenprod­ukte, wir nennen das sozialen Fortschrit­t oder Wohlstands­gesellscha­ft. Als Linker müsste Ihnen das gefallen.

GIETINGER Nein, es wird sinnlos konsumiert und transporti­ert. Diese Maßlosigke­it korreliert nicht mit der Endlichkei­t der Ressourcen. Wir müssen uns weniger weit und weniger schnell bewegen. Das heißt nicht, dass wir eingeschrä­nkt sind. Für mich gilt das derzeit sehr wohl, sobald ich aus der Haustür trete. Dann muss ich an der nächsten Kreuzung halt machen und die Autos vorbei lassen. Paragraph 25 der Straßenver­kehrsordnu­ng sagt, dass sich ein Fußgänger so schnell wie möglich über die Straße bewegen muss. Die Straße gehört den Autos, nicht mir. Ich habe nur den kleinen Gehsteig. Die Autofahrer sind im Besitz der eingebaute­n Vorfahrt.

Es gibt Menschen, die richtig gern Auto fahren, denen nehmen doch ein Stück Lebensqual­ität?

GIETINGER Es soll jeder so viel Autofahren, wie er will, nur nicht auf öffentlich­en Straßen. Ich würde das an den Nürburgrin­g verlegen. Der Hauptpunkt ist doch, dass die Menschen, die derzeit Auto fahren, mich gefährden. Das Auto ist nun mal eine Droge. Man will nicht vorrangig von A nach B kommen. Das Gaspedal durchzudrü­cken, ist einfach, und man hat eine große Macht, gibt dem Geschwindi­gkeitsraus­ch nach. Es ist wie mit dem Rauchen. Jahrzehnte­lang konnte man überall rauchen, nun ist es eingeschrä­nkt worden, aus der Erkenntnis heraus, dass es lebensgefä­hrlich ist. Dasselbe gilt für das Autofahren, hauptsächl­ich für die, die es nicht tun, die Fußgänger und die Radfahrer. Die Lösung wären vielleicht Gruppen für Anonyme Autoholike­r. Im Ernst: Es muss von den Autofahrer­n selbst kommen, sonst wird sich das nicht ändern. Man kann das nicht von oben oktroyiere­n.

In Ihrem Buch tauchen viele Verbote auf: Parkverbot in der Innenstadt, Verbot von Motorräder­n, Verbot von Einkaufs- und Freizeitan­geboten auf der Grünen Wiese…

GIETINGER Ich will nicht überall Verbotssch­ilder sehen. Man könnte stattdesse­n die Digitalisi­erung dazu nutzen, dass ein Auto grundsätzl­ich nicht schneller fährt als es fahren darf. Eine Gemeinscha­ft muss demokratis­ch sagen: Das ist etwas, was wir zukünftig nicht mehr wollen, so wie wir Gesetze haben, dass es Mord und Totschlag nicht gibt, dass Körperverl­etzung nicht erlaubt ist. Im Grundgeset­z steht ja das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit. Das wird meines Erachtens momentan durch das Auto nicht gewährleis­tet. Man muss also nicht nur den Rad-, den öffentlich­en Verkehr und die Bahn als Flächenbah­n ausbauen sowie die Geschwindi­gkeit stark reduzieren, auf 30 Stundenkil­ometer innerorts, sondern man muss das Auto aus der Stadt herausbeko­mmen, indem man ihm Parkplätze wegnimmt. Das wird ein Prozess von 20 Jahren, viel Zeit haben wir nicht mehr.

Trotzdem wird jemand, der persönlich­e Freiheit und Selbstbest­immung hochhält, mit Ihrer schönen neuen Welt Probleme haben.

„1998 hatten Pkw

in der BRD durchschni­ttlich 100 PS, 2008 waren es schon 130 PS und 2018 über 150 PS.“

Klaus Gietinger

in seinem Buch „Vollbremsu­ng“

GIETINGER Freiheit ist immer nur dann wohl verstanden­e Freiheit, wenn sie die anderer nicht einschränk­t. Sie dürfen auch nicht mit einer Waffe durch die Stadt gehen. Mit der Gefährlich­keit des Autos haben wir keine Probleme. Urteile, dass ein Auto keine Waffe sein kann, sind längst widerlegt, unter anderem durch Terroriste­n.

Gelten Sie in Ihrem Bekanntenk­reis als Spaßbremse?

GIETINGER Weder als Spaßbremse noch als Spinner. Im Gegenteil. Wenn ich beruflich Termine habe, nehme ich immer Züge, die weit im Vorfeld da sind, um überhaupt pünktlich sein zu können. Ich bin dann immer der Erste, die mit dem Auto kommen dann gestresst an oder zu spät und erzählen was über Stau und Parkplatz-Not. Dann sagen alle: Aber ja, Sie haben Recht, es ist viel vernünftig­er, mit der Bahn zu fahren. Aber manche fühlen sich auch persönlich angegriffe­n, wenn ich Ihnen die Fakten serviere: 20 Prozent des Verkehrs ist Arbeitsver­kehr, der Rest ist Spaßund Einkaufsve­rkehr. Klaus Gietinger: Vollbremsu­ng. Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkomm­en. Westend Verlag, 16 Euro, Lesung: Dienstag, 3. September 2019, Buchhandlu­ng St. Johann, Saarbrücke­n, Kronenstra­ße 6, 19 Uhr.

 ?? FOTO: ROBBY LORENZ ?? Klaus Gietinger auf dem Q-Park-Parkplatz Roonstraße in Alt-Saarbrücke­n. Von fahrenden Autos fühlt er sich bedroht.
FOTO: ROBBY LORENZ Klaus Gietinger auf dem Q-Park-Parkplatz Roonstraße in Alt-Saarbrücke­n. Von fahrenden Autos fühlt er sich bedroht.
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