Saarbrücker Autor will Deutschen das Auto austreiben
Der Saarbrücker Autor Klaus Gietinger ruft nicht mehr zu einer Verkehrswende auf, sondern zu einer Verkehrsrevolution.
Wir Bürger sind in den Augen von Klaus Gietinger vom „Drogenkartell“der Automobilindustrie und deren politischen Handlangern zu Bewegungs-Junkies gemacht worden. Dabei sterben zehn Menschen pro Tag in Deutschland durch einen Autounfall, weltweit sind es laut Gietinger 1,3 Millionen pro Jahr. Das Auto sei eine Massenvernichtungswaffe, sagt der in Saarbrücken lebende Soziologe und Regisseur. In seinem polemisch zuspitzenden Buch „Vollbremsung“entwirft er eine durch intensive Recherchen gestützte „konkrete Utopie“einer autofreien, trotzdem mobilen Gesellschaft. Selbst E-Autos hält er für eine Scheinalternative.
Wann und wie sind Sie zum Autohasser geworden?
GIETINGER Der Begriff ist mir zu plakativ, er kam vom Verleger, als ich das erste Buch zum Thema schrieb, „Totalschaden“(2010). Als Kind habe ich wie alle Autobildchen gesammelt, aber ich habe vor 35 Jahren mein Auto abgeschafft, dieser Entschluss ist lange gereift. Bekannte sind tödlich mit dem Auto verunglückt, und ich selbst kam des Öfteren zufällig zu Autounfällen hinzu. Am Schrecklichsten war ein Motorradunfall, da flog mir der Fahrer entgegen, 25 Meter weit, und hat sich das Genick gebrochen. Zuzusehen, wie ein Mensch stirbt, das war traumatisch. Schließlich habe ich mich theoretisch mit dem Thema befasst und stellte fest, dass das Autofahren verrückt ist, weil es weltweit extrem viele Opfer kostet. Bevor ich dann 2010 das erste Buch zum Thema, „Totalschaden“, schrieb, hatte ich einen Artikel in einer Verkehrszeitschrift verfasst, darüber, wie viele Tote das Auto weltweit verursacht hat seit seiner Erfindung. Ich schrieb alle Institute in der Welt an, entwickelte ein mathematisches Modell und kam auf 54 Millionen Menschen. Diese Zahl hat nie jemand widerlegt.
Wie waren denn die ersten Erfahrungen ganz ohne Auto?
GIETINGER Ich lebte damals in Frankfurt, innerstädtisch war das überhaupt kein Problem. Damals funktionierte die Bahn auch noch richtig gut. Innerhalb von vier Stunden kam man überall dort hin in Deutschland, wo man hin wollte.
Die Argumentation in Ihrem Buch erinnert an eine Ideologie: Nur die Total-Abschaffung des privaten Autoverkehrs bringt das Heil?
GIETINGER Es ist nun mal so, dass 28 Prozent des Klimawandels in Deutschland und Europa auf das Auto zurückzuführen sind. Die Umweltschädlichkeit wurde bei der Industrie, in der Landwirtschaft und bei der Energie reduziert. Nur beim Individualverkehr ist das nicht geglückt, das Einzige, was sogar zugenommen hat, ist der Verkehr. Was jetzt diskutiert wird, sind Scheinalternativen, die E-Autos und Wasserstoff-Autos. Denn man will nur den Motor austauschen, aber nicht die Verkehrspolitik ändern. China ist ja Vorreiter fürs E-Auto. Zugleich sind sie Fans der SUVs, die immer schwerer und immer schneller werden. Wenn ich die elektrisch mache, habe ich überhaupt keinen Vorteil.
Wie soll Ihre autofreie Welt funktionieren?
GIETINGER Ich plädiere für die Abschaffung des Autos als Massenverkehrsmittel. Natürlich brauchen wir Busse, Feuerwehrautos und Polizeiautos. Aber die Stunde des Privatautos hat geschlagen. Gerade wird wieder ein Fetisch aufgebaut: Digitalisierung, autonomes Fahren. Die Technik soll‘s immer wieder richten. Aber die allein bringt es nicht, man muss Systeme ändern.
Sie schildern die Entwicklung zur autofreien Gesellschaft als alternativlos. Zugleich sprechen Sie von einer Utopie. Für die muss man sich aber doch frei entscheiden können.
GIETINGER Ich belege mit Fakten, wie man Co2-frei und ohne größere Menschenverluste Mobilität umsetzen kann. Unter Mobilität wird meist ja nur Automobilität verstanden. Was heißt, man fährt sehr weit und sehr schnell. Die Erfahrung zeigt, dass wir uns immer mehr, immer schneller und weiter als je zuvor bewegen. Dabei haben Soziologen untersucht, dass wir 98 Prozent des Lebens in der Nahmobilität verbringen.
Wann war Ihre letzte Autofahrt und Ihre letzte Flugreise?
GIETINGER Es ist tatsächlich manchmal nicht zu verhindern, dass ich irgendwo mitfahre. Geflogen bin ich dieses Jahr, nach Kreta. Dort habe ich mit Freunden bei einem Projekt in einem Bergdorf geholfen.
Da wären Sie doch auch mit dem Zug und der Fähre hingekommen, dann mit dem Bus ins Dorf.
GIETINGER Das wäre viel teurer gewesen.
Und hätte sie Zeit gekostet. Es geht bei Mobilität auch um die Ressource Zeit.
GIETINGER Wir könnten uns wieder umgewöhnen. Vor 30 Jahren war es überhaupt kein Problem, mit dem Nachtzug nach Neapel oder Barcelona zu fahren. Die wurden eingestellt, man kann sie reaktivieren. Und mit einer elektrifizierten Bahn könnte man ökologisch reisen, weltweit.
Das hört sich bei Ihnen alles sehr idyllisch an. Ohne Auto gibt es mehr innerstädtische Grünflächen, Kinder gehen zu Fuß in die Schule, man bleibt in den kleineren Städten, arbeitet dort in gewerblichen Betrieben, geht in kleinere Lebensmittelläden, in kleinere Kneipen, in kleinere Kinos, weil sich die Nahversorgung regeneriert hat.
GIETINGER Ich bin kein Gegner der Moderne. Aber das Auto ist eine Fehlkonstruktion der Moderne. Vor allem ist es sehr stark ein faschistisches Produkt. Nehmen Sie Henry Ford, Mussolini oder Hitler, die haben mittelalterliche Mythen und moderne Technik zusammengeworfen. Es endete immer mit Vernichtungskriegen. Den VW hat keiner bekommen, die Panzer fuhren in den Osten.
Trotz Fridays-for-Future geht die Zahl der Flüge nicht zurück. Das lässt nichts Gutes ahnen für die Durchsetzung Ihrer Auto-Diät.
GIETINGER Man könnte das ändern, indem man die Flugreisen so besteuert, dass sie so teuer werden, wie sie
es tatsächlich sind.
Früher waren Flüge oder dicke Autos den Happy Few vorbehalten. Heute sind sie Massenprodukte, wir nennen das sozialen Fortschritt oder Wohlstandsgesellschaft. Als Linker müsste Ihnen das gefallen.
GIETINGER Nein, es wird sinnlos konsumiert und transportiert. Diese Maßlosigkeit korreliert nicht mit der Endlichkeit der Ressourcen. Wir müssen uns weniger weit und weniger schnell bewegen. Das heißt nicht, dass wir eingeschränkt sind. Für mich gilt das derzeit sehr wohl, sobald ich aus der Haustür trete. Dann muss ich an der nächsten Kreuzung halt machen und die Autos vorbei lassen. Paragraph 25 der Straßenverkehrsordnung sagt, dass sich ein Fußgänger so schnell wie möglich über die Straße bewegen muss. Die Straße gehört den Autos, nicht mir. Ich habe nur den kleinen Gehsteig. Die Autofahrer sind im Besitz der eingebauten Vorfahrt.
Es gibt Menschen, die richtig gern Auto fahren, denen nehmen doch ein Stück Lebensqualität?
GIETINGER Es soll jeder so viel Autofahren, wie er will, nur nicht auf öffentlichen Straßen. Ich würde das an den Nürburgring verlegen. Der Hauptpunkt ist doch, dass die Menschen, die derzeit Auto fahren, mich gefährden. Das Auto ist nun mal eine Droge. Man will nicht vorrangig von A nach B kommen. Das Gaspedal durchzudrücken, ist einfach, und man hat eine große Macht, gibt dem Geschwindigkeitsrausch nach. Es ist wie mit dem Rauchen. Jahrzehntelang konnte man überall rauchen, nun ist es eingeschränkt worden, aus der Erkenntnis heraus, dass es lebensgefährlich ist. Dasselbe gilt für das Autofahren, hauptsächlich für die, die es nicht tun, die Fußgänger und die Radfahrer. Die Lösung wären vielleicht Gruppen für Anonyme Autoholiker. Im Ernst: Es muss von den Autofahrern selbst kommen, sonst wird sich das nicht ändern. Man kann das nicht von oben oktroyieren.
In Ihrem Buch tauchen viele Verbote auf: Parkverbot in der Innenstadt, Verbot von Motorrädern, Verbot von Einkaufs- und Freizeitangeboten auf der Grünen Wiese…
GIETINGER Ich will nicht überall Verbotsschilder sehen. Man könnte stattdessen die Digitalisierung dazu nutzen, dass ein Auto grundsätzlich nicht schneller fährt als es fahren darf. Eine Gemeinschaft muss demokratisch sagen: Das ist etwas, was wir zukünftig nicht mehr wollen, so wie wir Gesetze haben, dass es Mord und Totschlag nicht gibt, dass Körperverletzung nicht erlaubt ist. Im Grundgesetz steht ja das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das wird meines Erachtens momentan durch das Auto nicht gewährleistet. Man muss also nicht nur den Rad-, den öffentlichen Verkehr und die Bahn als Flächenbahn ausbauen sowie die Geschwindigkeit stark reduzieren, auf 30 Stundenkilometer innerorts, sondern man muss das Auto aus der Stadt herausbekommen, indem man ihm Parkplätze wegnimmt. Das wird ein Prozess von 20 Jahren, viel Zeit haben wir nicht mehr.
Trotzdem wird jemand, der persönliche Freiheit und Selbstbestimmung hochhält, mit Ihrer schönen neuen Welt Probleme haben.
„1998 hatten Pkw
in der BRD durchschnittlich 100 PS, 2008 waren es schon 130 PS und 2018 über 150 PS.“
Klaus Gietinger
in seinem Buch „Vollbremsung“
GIETINGER Freiheit ist immer nur dann wohl verstandene Freiheit, wenn sie die anderer nicht einschränkt. Sie dürfen auch nicht mit einer Waffe durch die Stadt gehen. Mit der Gefährlichkeit des Autos haben wir keine Probleme. Urteile, dass ein Auto keine Waffe sein kann, sind längst widerlegt, unter anderem durch Terroristen.
Gelten Sie in Ihrem Bekanntenkreis als Spaßbremse?
GIETINGER Weder als Spaßbremse noch als Spinner. Im Gegenteil. Wenn ich beruflich Termine habe, nehme ich immer Züge, die weit im Vorfeld da sind, um überhaupt pünktlich sein zu können. Ich bin dann immer der Erste, die mit dem Auto kommen dann gestresst an oder zu spät und erzählen was über Stau und Parkplatz-Not. Dann sagen alle: Aber ja, Sie haben Recht, es ist viel vernünftiger, mit der Bahn zu fahren. Aber manche fühlen sich auch persönlich angegriffen, wenn ich Ihnen die Fakten serviere: 20 Prozent des Verkehrs ist Arbeitsverkehr, der Rest ist Spaßund Einkaufsverkehr. Klaus Gietinger: Vollbremsung. Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkommen. Westend Verlag, 16 Euro, Lesung: Dienstag, 3. September 2019, Buchhandlung St. Johann, Saarbrücken, Kronenstraße 6, 19 Uhr.