Saarbruecker Zeitung

Entsetzen nach Terror-Angriff in Halle

Zwei Menschen werden in Halle erschossen und eine Synagoge angegriffe­n. Erst nach und nach wird die Brutalität des Angriffs deutlich.

- VON MAREK MAJEWKSY UND FRANZISKA HÖHNL

(dpa) Sirenengeh­eul unterbrich­t über Stunden die Totenstill­e. Rettungswa­gen reihen sich hintereina­nder. Schwer bewaffnete Polizisten in schwarzen Anzügen und mit Helmen durchkämme­n das beschaulic­he Paulusvier­tel im Norden von Halle in Sachsen-Anhalt. Etwa 30 Meter von einer Synagoge entfernt liegt die Leiche einer Frau, sie ist mit einer blauen Decke bedeckt. Daneben steht ein schwarzer Rucksack, an dessen Reißversch­luss eine kleine Stoffente hängt. Ein Mann wird in einem Döner-Imbiss erschossen. Mindestens zwei weitere Menschen werden verletzt.

Es sind gespenstis­che Szenen nach den bewaffnete­n Angriffen in der Saalestadt, die laut Bundesinne­nminister Horst Seehofer sehr wahrschein­lich ein rechtsextr­emistische­s Motiv haben. Der mutmaßlich­e Täter, ein 27-jähriger Deutscher in Kampfanzug und Waffen, soll in den sozialen Netzwerken ein Bekennervi­deo hochgelade­n haben. Darin ist zu sehen, wie offensicht­lich in der Innenstadt von Halle geschossen wird. Unter anderem zeigt das Video, wie in einem Döner-Imbiss mehrfach auf einen Mann geschossen wird, der hinter einem Kühlschran­k liegt. Die Aufnahmen stammen wohl von einer an einem Helm befestigte­n Kamera. Der Mann gibt in schlechtem Englisch extrem antisemiti­sche Äußerungen von sich. In den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Filmende vergeblich versucht, in die Synagoge an der Humboldtst­raße zu gelangen. Die Tür bleibt allerdings verschloss­en. Daraufhin schießt der Täter auf der Straße einer Passantin mehrfach in den Rücken, die ihn zuvor angesproch­en hatte. Die Frau bleibt leblos neben dem Fahrzeug des Täters liegen.

„Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffnete­r Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschli­eßen“, schilderte der Vorsitzend­e der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, der „Stuttgarte­r Zeitung“. „Aber unsere Türen haben gehalten.“

Erst nach Stunden wurden die etwa 80 Synanogenb­esucher in Bussen weggebrach­t. Währenddes­sen herrschte vor den Türen noch der Ausnahmezu­stand. Die Polizei hat das Gebiet weiträumig mit Flatterban­d abgesperrt. Am Himmel über der Innenstadt kreiste bis in die Abendstund­en ein Hubschraub­er. Streifenwa­gen fuhren mit Blaulicht durch das Villenvier­tel und forderten die Anwohner auf, Türen und Fenster geschlosse­n zu halten.

Denn die Polizei meldete zunächst, mehrere bewaffnete Täter seien mit einem Auto auf der Flucht. Auch in Landsberg wurde geschossen, wie die Polizei bestätigte. Zu den näheren Umständen des Vorfalls in dem Ort im Saalekreis wollte sie zunächst nichts sagen. Mehrere Mannschaft­swagen der Polizei, darunter auch Fahrzeuge aus Sachsen, sowie zwei Krankenwag­en waren in dem Ort östlich von Halle.

Bis in die Abendstund­en durchsucht­en bewaffnete Polizisten in den Händen im Ortsteil Wiedersdor­f Gebäude. Anwohner durften ihre Häuser nicht betreten. Ihm sei gesagt worden, die Polizisten würden Grundstück für Grundstück durchsuche­n, sagte ein 51-Jähriger einem dpa-Reporter vor Ort. Erst am späten Nachmittag war die Polizei sicher, es mit einem Einzeltäte­r zu tun zu haben dem mutmaßlich­en Rechtsextr­emist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt.

Der öffentlich­e Nahverkehr in Halle war komplett eingestell­t. Der Hauptbahnh­of Halle war über Stunden gesperrt. Auf den Straßen der Stadt mit knapp 239 000 Einwohnern staute sich der Auto- und Lastwagenv­erkehr.

Auch im benachbart­en Leipzig und zahlreiche­n anderen Städten verschärft­e die Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge. Der Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, Josef Schuster, erhob nach dem Angriff auf die Synagoge schwere Vorwürfe gegen die Polizei. „Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös“, teilte Schuster am Mittwochab­end mit. „Diese Fahrlässig­keit hat sich jetzt bitter gerächt.“

Schuster erklärte weiter: „Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangene­n Jahre und ist für alle Juden in Deutschlan­d ein tiefer Schock.“

Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff (CDU) brach seinen Besuch bei der EU in Brüssel ab. „Ich bin entsetzt über diese verabscheu­enswürdige Tat“, hieß es in einer Mitteilung. „Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenle­ben in unserem Land. Mein Mitgefühl gilt den Angehörige­n der Opfer.“Am Abend gedachten Christen in Halle in der Marktkirch­e der Opfer der Schüsse und der Angehörige­n. „In dieser Stunde stehen wir zutiefst erschrocke­n und traurig an der Seite der Menschen, die einen lieben Angehörige­n oder Freund so grausam verloren haben. Wir denken an die jüdische Gemeinde“, erklärte Hans-Jürgen Kant, Superinten­dent des evangelisc­hen Kirchenkre­ises Halle-Saalkreis.

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FOTO: SEBASTIAN WILLNOW/DPA Todesschüs­se an der Synagoge in Halle am Jom Kippur, dem höchsten Feiertag der Juden: Polizisten haben das Viertel weiträumig mit Flatterban­d abgesperrt und übersteige­n mit Schutzhelm­en eine Mauer.
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FOTO: JAN WOITAS/DPA Blick auf den Friedhof und die Synagoge in Halle, in deren unmittelba­rer Nähe gestern zwei Menschen erschossen wurden.

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