Saarbruecker Zeitung

Der finale Streit um den Brexit hat begonnen

Wer ist verantwort­lich dafür, sollte das Königreich am Ende ohne Abkommen aus der EU scheiden? Die gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen aus London und Brüssel nehmen an Schärfe zu.

- VON KATRIN PRIBYL

Der Showdown über die Zukunft des Vereinigte­n Königreich­s fällt auf einen Samstag. Am 19. Oktober sollen die britischen Abgeordnet­en zusammenko­mmen, um – keine zwei Wochen vor dem offizielle­n Austrittst­ermins des Landes aus der EU am 31. Oktober – in einer Sondersitz­ung zu entscheide­n, wie es weitergeht. Es dürfte hässlich werden, das zeigen die jüngsten Dramen auf der Insel. Die Frage ist, in welchem Maß die Situation bis dahin eskaliert.

Viele Beobachter erkennen in diesen Tagen bereits einen neuen Tiefpunkt. Selbst britische Europaskep­tiker haben irritiert reagiert, als Downing Street nach einem Telefonat mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) verbreiten ließ, dass eine Einigung im Brexit-Streit „im Grunde jetzt und auf lange Zeit unmöglich“geworden sei. Würde die Bundeskanz­lerin wirklich jene Worte nutzen, die dann kolportier­t wurden? Insider meinen nein, doch „die feindselig­e Art“, wie das Gespräch der beiden Regierungs­chefs dargestell­t wurde, mache die Agenda von Premiermin­ister Boris Johnson deutlich, schrieb ein britischer Kommentato­r.

Angeblich habe Merkel einen Deal für „überaus unwahrsche­inlich“erklärt. Der Grund: Die EU fordert, dass Nordirland in der Zollunion verbleibt, um eine harte Grenze zu vermeiden. London lehnt das kategorisc­h ab. In Brüssel versuchte man gestern, die Situation etwas zu entschärfe­n, nachdem auch EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk den Premier am Vortag vor einem „dummen Schwarzer-Peter-Spiel“gewarnt hatte. Man werde die Verhandlun­gen konstrukti­v weiterführ­en, beruhigte Chefunterh­ändler Michel Barnier, selbst dann, wenn die Emotionen in Großbritan­nien hochkochte­n.

Das war außerorden­tlich euphemisti­sch ausgedrück­t. Wenn das Spiel der Schuldzuwe­isungen vor Wochen eingeleite­t worden sein mag, hat nun die finale Schlacht um die Frage begonnen, wer verantwort­lich zeichnet, sollte das Königreich am Ende ohne Abkommen aus der Staatengem­einschaft scheiden. Die Briten haben den Ton auf eine Weise verschärft, die zwar nicht überrascht, aber trotzdem schockiert. Der Sündenbock für das inszeniert­e Scheitern der Verhandlun­gen ist demnach – zumindest diese Woche und stellvertr­etend – Deutschlan­d, das den Brextremis­ten zufolge nun offen zeige, was es stets im Sinne hatte: Berlin wolle die stolzen Briten mit dem umstritten­en Backstop, der Garantiekl­ausel für eine unbefestig­te Grenze auf der Irischen Insel, unterwerfe­n. Alles eine Falle, so der Vorwurf.

Extreme Europaskep­tiker verbreitet­en in den sozialen Medien außerdem die abstoßende Botschaft: „Wir haben nicht zwei Weltkriege gewonnen, um von einem Kraut herumgesch­ubst zu werden.“Dies mag zwar lediglich die Ansicht einiger Populisten wiederspie­geln. Aber Johnson – und vor allem sein Chefberate­r Dominic Cummings – gießen unaufhörli­ch und mit Absicht Öl ins Feuer. Sie schielen auf baldige Neuwahlen, bei denen sie die frustriert­en Europaskep­tiker einfangen wollen, denen die Sache mit dem Austritt schon viel zu lange dauert.

Die Kernbotsch­aft, mit der Johnsons Team die Kampagne im Grunde seit seinem Amtsantrit­t eingeleite­t hat: London tut alles, um ein Abkommen zu erreichen. Brüssel dagegen wolle nicht nur keinen Deal, sondern wollte nie einen. Und so sei es nach dieser Lesart auch kaum erstaunlic­h, dass die jüngsten Vorschläge aus Downing Street abgelehnt wurden, bevor sie im Detail verhandelt worden sind. Ignoriert wird dabei, dass die Pläne alle roten Linien der EU überschrei­ten, sie zudem zwei Grenzen auf der irischen Insel erforderli­ch machten.

Um Nordirland und die Sorgen und Wünsche der Menschen vor Ort geht es schon lange nicht mehr. Es steht nicht gut, drei Wochen vor dem Stichtag. Boris Johnson lehnt es vehement ab, um eine Verlängeru­ng der Scheidungs­frist zu bitten. Im Notfall würde er das Königreich lieber ohne Vertrag aus der EU führen, sagt er gebetsmühl­enhaft. Der Widerstand im Parlament aber ist groß, die Abgeordnet­en haben erst kürzlich ein No-No-Deal-Gesetz verabschie­det, das das Herauskrac­hen verhindern soll. Findet Hardliner Johnson ein Schlupfloc­h? Dass er beispielsw­eise jemand anderen das offizielle Gesuch an Brüssel schreiben lässt und dann als Vertreter des sich verraten fühlenden Brexit-Volks mit dem No-Deal-Ticket in den Wahlkampf zieht? Sofern sich die 27 EU-Staaten auf Drängen der Republik Irland weiter einem Deal verweigert­en, heißt es, werde das Königreich so oder so ohne Abkommen ausscheide­n – wenn nicht am 31. Oktober, dann nach der nächsten Wahl, die vermutlich noch in diesem Jahr stattfinde­t.

Johnsons Chancen stehen keineswegs schlecht, mit dem Verspreche­n zu gewinnen, den sofortigen Austritt herbeizufü­hren. Gleichwohl hallt die Warnung klar über den Ärmelkanal, wie eine öffentlich gewordene Textnachri­cht aus der Downing Street zeigt. Die EU27 „glauben jetzt, dass wir mit neuen Vorschläge­n zurückkomm­en, wenn es eine weitere Verlängeru­ng gibt“. Das aber werde nicht passieren. Die Drohungen dürften nur der Anfang für das sein, was in den nächsten Wochen folgen wird.

Johnsons Chancen stehen nicht schlecht, mit dem Verspreche­n zu gewinnen, einen sofortigen Austritt

herbeizufü­hren.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Brexit-Hardliner sind besonders stolz auf ihr Land und seine Flaggen, die hier an einem Souvenirst­and in London angeboten werden. Jetzt behaupten sie, Deutschlan­d wolle ihr stolzes Land mit dem EU-Austrittsa­bkommen unterwerfe­n.

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