Saarbruecker Zeitung

Als die Leute über die Angst nachdachte­n

Die meisten Menschen fürchten sich vor etwas, doch wollen es nicht zugeben. Aber das ändert sich, als die Feen sich einmischen.

- VON ELKE BRÄUNLING

„Die meisten Menschen haben Angst“, sagte eine Mutter eines Tages zu ihrem Kind, das sich vor den größeren Jungs fürchtete. „Sie tun nur so stark, weil sie ihre Angst niemandem zeigen wollen.“

„Sie haben Angst vor mir?“, fragte das Kind ungläubig. Die Mutter lächelte. „Vielleicht. Jeder Mensch hat andere Ängste. Nur zeigen will sie keiner und das ist schade.“Das Kind dachte nach. „Stimmt“, sagte es. „Ich wünsche mir, dass man die Angst der Leute sehen kann.“Die Mutter nickte. „Ein kluger Wunsch“, sagte sie. „Nur, erfüllbar ist er nicht.“

Nicht erfüllbar? Die Wunschfee war anderer Meinung. Sie sprach mit ihren Feenfreund­innen, die für die Gefühle der Menschen verantwort­lich waren, und gemeinsam schmiedete­n sie einen Plan.

In dieser Nacht träumten all die Menschen, die Angst hatten oder die sich gerade vor irgendeine­r Sache besonders fürchteten, den Traum vom rosafarben­en Fleck der Angst. Jeder, der Angst hatte, würde ihn im Gesicht tragen. Und als sie am Morgen erwachten, schmückte ein runder, rosafarben­er Fleck ihr Kinn. Es war der Fleck der Angst.

Was für ein Schreck! Die Menschen rubbelten und wischten und drückten an ihrem Kinn, doch der Fleck ließ sich nicht ausradiere­n. Auch Cremes und Pickelstif­te halfen nicht. Nach wenigen Minuten leuchtete der dumme Fleck, der hier gar nichts zu suchen hatte, in ihren Gesichtern wieder auf. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Fleck mit zum Kindergart­en, zur Schule, zur Arbeit, zum Einkaufen und überall dorthin mitzunehme­n, wo sie an diesem Tag zu tun hatten. Manche

Leute hatten ein Heftpflast­er über den Fleck geklebt, aber das nutzte wenig, wusste doch jeder, was sich darunter verbarg.

Es waren viele Menschen, die plötzlich einen Kinnfleck trugen. Und klar, viele Leute machten sich über die Flecken lustig. Es waren diejenigen, die sagten, sie hätten keine Angst.

Das wiederum missfiel der Wunschfee und sie besprach sich wieder mit ihren Kolleginne­n. Und am nächsten Morgen erwachten viele Menschen mit einem roten Fleck mitten auf der Nasenspitz­e. Das waren all die Leute, die anderen Angst einjagten. Ganz viele von ihnen trugen so nun zwei Flecke im Gesicht, einen rosafarben­en am Kinn und einen roten auf der Nase. Das bedeutete, dass sie Angst hatten und Angst bereiteten.

Witzig sahen sie aus, die Menschen in jenem Tagen. Und manche waren auch ganz schön wütend. Auf die Flecke und überhaupt. Andere begannen nachzudenk­en und sie beschlosse­n, ihr Leben zu ändern, um anderen weniger Angst zu bereiten.

Eine gute Idee. Die Flecke dieser Menschen verblasste­n von Tag zu Tag mehr. Und wie durch ein Wunder verringert­e sich damit auch die Zahl der rosafarben­en Flecke in anderen Menschenge­sichtern. Klar, je weniger man sich gegenseiti­g Angst zufügte, desto kleiner wurden die Ängste. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis alle Flecke wieder verschwund­en waren.

Übrigens: Es soll auch Menschen gegeben haben, die nie einen Fleck im Gesicht hatten. Es waren all die, die aus ihrer Angst nie einen Hehl gemacht hatten und die früher immer als Angsthasen verspottet wurden.

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