Massive Verstöße gegen Ausgangsregeln im Land
Die Einschränkungen zur Corona-Abwehr werden wohl nicht vor 20. April gelockert. Nicht jeder hält sich daran.
(kir/fu/ulb) Die saarländische Landesregierung hat am Wochenende eindringlich an die Bevölkerung appelliert, sich an die aktuellen Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu halten. Hintergrund sind Ereignisse vom Wochenende: Das schöne Wetter hatte vor allem am Samstag viele Saarländer zu Verstößen gegen das geltende Versammlungsverbot verleitet. Allein am Samstag habe die Polizei 270 Mal ausrücken müssen, 176 Mal sei gegen die Allgemeinverfügung verstoßen worden, teilte Innenminister Klaus Bouillon (CDU) mit. In der Folge sei es zu 67 Strafanzeigen gekommen.
Im Saarland ist es derzeit nur erlaubt, sich allein, in Begleitung von Angehörigen des eigenen Haushalts oder einer weiteren Person in der Öffentlichkeit zu bewegen. Letztere muss zwei Meter Abstand halten. Ziel ist, Kontakte zu reduzieren und so eine Übertragung der neuartigen Corona-Krankheit zu verlangsamen.
Vor allem am Saarbrücker Staden sei aber zeitweise der Eindruck entstanden, „dass es keinerlei Beschränkungen gäbe“, so die Polizei. Am Samstag seien dort zeitgleich 150 bis 200 Personen aufgefordert worden, auseinanderzugehen. Dafür habe man Kräfte von außerhalb Saarbrückens heranziehen müssen. Landesweit erreichten die Polizei von Freitag bis Sonntagmorgen über 300 Hinweise auf Verstöße. Bouillon sagte, das Verhalten „können wir nicht tolerieren“. Es werde „direkt geahndet“.
Das Saarland hat derweil eine Kampagne gestartet, um für die Einhaltung der Regeln zu werben. „Wir Saarländer sind gegen Corona-Partys!“, lautet das Motto, das Symbol ist ein ausgestreckter Mittelfinger mit aufgemaltem, grimmigem Smiley. Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) warnte in einer Videobotschaft, die Regeln jetzt zu lockern. Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) stellte in Berlin klar, man rede „bis zum 20. April nicht über irgendwelche Erleichterungen“.
(dpa) Was der Virologe Christian Drosten für die Bundesrepublik ist, ist Anders Tegnell für die Schweden: Der oberste Epidemiologe in Stockholm ist derzeit der gefragteste Mann im Land, omnipräsent auf allen Kanälen. Die Meinungen über ihn und seine Empfehlungen gehen auseinander: Während die einen auf die spezielle Corona-Strategie ihrer Regierung und ihres momentan wichtigsten Experten vertrauen, wundern sich die anderen, warum Schweden eine ganz andere Linie fährt als seine Nachbarn und EU-Partner.
In der Tat geht Schweden in der Corona-Krise einen Sonderweg: Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse sind anders als Gymnasien und Unis weiter offen. Das Gleiche gilt für Restaurants, Kneipen und Cafés, die ihre Gäste seit kurzem aber nur noch am Tisch bedienen dürfen. Die Skigebiete sind ebenfalls weiter geöffnet, die Staatsgrenzen für Nicht-Europäer dicht, nicht aber für Bürger der EU und der Europäischen Freihandelszone. Und durch Stockholm fahren weiter mit Pendlern ge- oder überfüllte Busse.
Damit ist Schweden im Grunde das letzte EU-Land ohne extrem scharfe Maßnahmen gegen Covid-19. Der Kontrast zu dem strikten Vorgehen der skandinavischen Nachbarn Dänemark und Norwegen und auch demjenigen in Deutschland könnte größer kaum sein. Man fragt sich: Geht das gut?
Glaubt man dem Staatsepidemiologen Tegnell, dann wird die schwedische Strategie aufgehen. „Wir sind überzeugt davon, dass das hier der richtige Weg ist“, sagte er kurz vor dem Wochenende dem Sender SVT. Im schwedischen Gesundheitswesen baue man sehr auf Vertrauen, Freiwilligkeit und darauf, eigene Lösungen zu finden, sagte er. Tegnell, die Regierung von Ministerpräsident
Stefan Löfven und die Gesundheitsbehörden setzen weitgehend auf die Vernunft der Bevölkerung, auf Empfehlungen an Menschen über 70 zur Vermeidung enger Kontakte sowie auf das für die Schweden typische Vertrauen in die politischen Entscheider. Die Ziele im Kampf gegen das Coronavirus SarsCoV-2 sind dabei dieselben wie anderswo: Die Virusausbreitung soll abgebremst werden, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig schwer erkranken und die Gesundheitssysteme überfordert werden. Die Folgen für Wirtschaft und Bürger sollen zudem aufgefangen werden.
In der Regierungsstrategie findet sich aber noch ein Zusatz: Gegen Corona sollten „zur richtigen Zeit die richtigen Maßnahmen“ergriffen werden, heißt es da. Am Freitag etwa verkündete Löfven, dass Versammlungen auf maximal 50 Teilnehmer begrenzt werden – bislang lag die Grenze bei der in Corona-Zeiten äußerst freizügigen Zahl von maximal 500 Teilnehmern. Das hatte unter anderem dazu geführt, dass in Skigebieten wie Åre bis vor kurzem noch bis zu 499 Menschen pro Veranstaltung Après-Ski feierten.
Mit Veranstaltungen in dieser Größenordnung ist nun vorerst Schluss. Löfven appellierte dabei am Freitag noch einmal an die schwedische Besonnenheit. „Wir alle müssen als Individuen unsere Verantwortung übernehmen“, sagte er – und fügte hinzu: „Wir können nicht alles gesetzlich regeln und verbieten.“
Diese freizügige Linie erntet nicht nur Zuspruch. In einem offenen Brief forderten mehrere hochrangige schwedische Wissenschaftler die Behörden Mitte der Woche zum Kurswechsel auf. Die Regierung müsse den Kontakt zwischen den Menschen im Land kräftig einschränken und viel mehr testen, hieß es. Es sei auch eine gute Idee, etwa Schulen und Restaurants zu schließen, bis man mehr über die Situation wisse.
„Wir sind eines der Länder der Welt, die die schwächsten Maßnahmen eingeführt haben“, monierte der Molekularbiologe Sten Linnarsson vom Stockholmer Karolinska-Institut in der Zeitung „Dagens
Nyheter“. Er und die weiteren Unterzeichner des Briefes wollten letztlich nur, dass Schweden internationalen Empfehlungen etwa von der Weltgesundheitsorganisation WHO folge – wie andere Länder eben auch.
Den richtigen Weg im Kampf gegen Corona kennt dabei noch keiner. „Niemand weiß, was derzeit richtig und was falsch ist“, sagt auch der Soziologe Fredrik Liljeros von der Universität in Stockholm. Er sieht einen Grund für den schwedischen Sonderweg in der Tatsache, dass Wissenschaftler und Behörden in Schweden bereits seit längerem bei der Forschung zur Ausbreitung von Viren zusammenarbeiteten. „Das sorgt dafür, dass wir glauben, dass die schwedische Strategie stärker auf wissenschaftlichem Boden fußt als anderswo“, sagte er. Seine Vermutung sei, dass Schwedens Virologen deshalb selbstbewusster an die Sache herangingen.
Bislang gibt es in Schweden knapp 3500 bestätigte Infektionsfälle. Mehr als 100 Menschen im Land sind bisher an Covid-19 gestorben, davon fast zwei Drittel in Stockholm. Dort nimmt die Zahl der Todesfälle seit Tagen zu. Als sie sich von Dienstag auf Mittwoch innerhalb von 24 Stunden von 19 auf 37 beinahe verdoppelt hatte, klang die Hauptstadtregion deutlich alarmierter als Tegnell, der die Lage auf seinen täglichen Pressekonferenzen stets in skandinavisch-kühler Manier beschreibt. In Stockholm klang das ganz anders. „Vor fünf Tagen habe ich die Covid-19-Epidemie als einen Sturm bezeichnet“, sagte Stockholms Gesundheitsdirektor Björn Eriksson. „Jetzt können wir sagen: Der Sturm ist da.“
Stabile Lage oder Notfall also? Mittlerweile gibt es in Stockholm mehr als 60 Todesfälle. Und die Zeitung „Aftonbladet“will vor allem eines von Tegnell und den Behörden wissen: „Ist der Corona-Sturm jetzt über uns oder nicht?“
„Wir können nicht alles gesetzlich regeln und verbieten.“
Stefan Löfven
Schwedischer Ministerpräsident