Saarbruecker Zeitung

Eine Jahrhunder­t-Krise

Die Kanzlerin nannte die Corona-Pandemie die größte Herausford­erung seit dem Zweiten Weltkrieg. Hat sie recht?

- VON MARTIN KESSLER

Für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihren Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) besteht kein Zweifel. „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausford­erung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsame­s solidarisc­hes Handeln ankommt“, sagte Merkel bei ihrer ersten und bislang einzigen direkten Fernseh-Ansprache. Scholz sprach im Bundestag von einer „Krise, die in der Geschichte der Bundesrepu­blik noch nie dagewesen ist“. Jenseits des Atlantiks verlangte der republikan­ische Kongressab­geordnete Rick McCormick Anstrengun­gen gegen das Virus wie gegen die Feinde der USA im Zweiten Weltkrieg. Doch haben diese Politiker recht? Ging es seit 1945 nicht mehr als nur einmal um die Existenz der Welt, wie wir sie kennen?

Die großen Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg lassen sich leicht greifen. Im Koreakrieg 1950 bis 1953 wollte General Douglas MacArthur Atomwaffen gegen China einsetzen. In der Kuba-Krise von 1962 stand die Welt kurz vor einem atomaren Schlagabta­usch zwischen den USA und der Sowjetunio­n. Und in der jüngeren Vergangenh­eit drohten die beiden Atomunfäll­e von Tschernoby­l und Fukushima die Welt nuklear zu verseuchen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war längere Zeit unklar, ob die islamistis­chen Terroriste­n nicht auch über Massenvern­ichtungswa­ffen verfügten. Und schließlic­h ließ die Finanzkris­e von 2008 und 2009 ganze Volkswirts­chaften zusammenbr­echen.

Der bedeutende Historiker Heinrich August Winkler, der in einer vierbändig­en Ausgabe die „Geschichte des Westens“bis in die Gegenwart minutiös beschrieb, gibt der Kanzlerin recht. „Es wird im Zuge dieser Krise zu einer der größten materielle­n Herausford­erungen der deutschen Nachkriegs­geschichte kommen.“Dabei sieht Winkler die Schwierigk­eiten nicht nur im medizinisc­hen Bereich, sondern genauso bei der Frage nach der Solidaritä­t innerhalb einer Gesellscha­ft. „Die Geldsummen, um die es geht, dürften mit denen der deutschen Einheit vergleichb­ar sein. Es wird eine Umverteilu­ng großen Stils notwendig sein, um die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Krise zu mildern.“

Nach den Szenarien einiger Wirtschaft­sinstitute dürfte Winkler nicht falsch liegen. Viele Unternehme­n und Selbststän­dige stehen vor dem Nichts, Millionen gehen in Kurzarbeit, werden gar ihre Stelle verlieren. „Zu vergleiche­n ist das nur mit dem Lastenausg­leich zugunsten der Vertrieben­en und Ausgebombt­en nach dem Zweiten Weltkrieg und den Transfers im Zuge der deutschen Einheit“, meint Winkler. Und: „Es muss zu steuerlich­en Belastunge­n derer kommen, die von der Krise wirtschaft­lich weniger stark betroffen sind oder gar von ihr profitiere­n.“

Der Mainzer Professor für Neueste Geschichte, Andreas Rödder, sieht es ähnlich: „Die Situation ist historisch neu. Einen so unmittelba­ren Durchschla­g auf das Alltagsleb­en der Menschen wie durch die Corona-Krise gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriege­s noch nie.“

Doch sosehr die Pandemie das Leben in nie dagewesene­r Form lahmlegt, gibt es doch einen Vorteil gegenüber anderen großen Krisen. Sie ist berechenba­r. Die Virologen und Statistike­r können die Wucht der Ausbreitun­g des Coronaviru­s je nach Szenario in Grenzen vorhersage­n. Entspreche­nd können Politiker zumindest in Deutschlan­d Vorsorge treffen. Schwierige­r ist die Tatsache, dass der Gegner unsichtbar ist. „Anders als bei kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen oder Bombenangr­iffen wird das Alltagsleb­en außer Kraft gesetzt, ohne dass wir die Ursache direkt wahrnehmen können. Das ist eine groteske Situation. Und das macht die Herausford­erung aus, von der Kanzlerin Merkel spricht“, bemerkt Rödder.

Auch die Aufgabe der Politik ist einzigarti­g. Es geht um die Aufrechter­haltung des Gesundheit­ssystems, was einen Stillstand erfordert, um die Pandemie einzudämme­n. Anderersei­ts erwachsen daraus dramatisch­e Gefahren für Wirtschaft und Gesellscha­ft. Und richtig brenzlig dürfte es bei der Frage werden, wer am Ende die Rechnung bezahlt. Darin liegt auch ein Unterschie­d zu existenzie­llen Krisen wie Kuba oder 9/11. „Beide Male ging es um Krieg und Frieden. In der Corona-Krise geht es um Fragen des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts. Es geht um Solidaritä­t in Deutschlan­d, aber darüber hinaus auch im Rahmen der Europäisch­en Union“, sagt Winkler.

Diese Solidaritä­t ist längst nicht gesichert, wie die jüngste Debatte um mögliche Ausstiegss­zenarien zeigt. „Wir legen eine Gesellscha­ft lahm, um eine zwar zahlenmäßi­g geringere, dafür aber gefährdete Hochrisiko­gruppe zu schützen. Das ist ein Akt der Humanität, der unsere Gegenwart von früheren Zeiten unterschei­det“, erklärt Rödder. Doch es stellt sich die Frage, wie lange Deutschlan­d das aushält.

Noch schwierige­r dürfte es sein, den Lastenausg­leich für die kommenden Jahre zu bestimmen. Je nachdem, wie lange die Wirtschaft im Notfall-Modus läuft, dürften die Schäden ausfallen, die einzelne Gruppen höchst unterschie­dlich treffen. Der Lastenausg­leich nach dem Zweiten Weltkrieg ist heute noch nicht ganz abgeschlos­sen.

 ?? FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA/GETTY IMAGES/ISTOCKPHOT­O ?? Katastroph­en-Bilder, die Geschichte schreiben: Wie der 11. September 2001, als Terroriste­n Flugzeuge in das World Trade Center in New York steuerten (oben), stürzt auch das neue Coronaviru­s (unten) die Welt in eine historisch­e Krise. Experten sehen die Pandemie gar als einzigarti­ge Herausford­erung seit dem Krieg.
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA/GETTY IMAGES/ISTOCKPHOT­O Katastroph­en-Bilder, die Geschichte schreiben: Wie der 11. September 2001, als Terroriste­n Flugzeuge in das World Trade Center in New York steuerten (oben), stürzt auch das neue Coronaviru­s (unten) die Welt in eine historisch­e Krise. Experten sehen die Pandemie gar als einzigarti­ge Herausford­erung seit dem Krieg.
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