Saarbruecker Zeitung

Wie die große Grippe vor gut 100 Jahren über die Region kam

Aus den USA breitete sich die Spanische Grippe 1918 bis nach Saarbrücke­n aus. Die Seuche rückt in Corona-Zeiten wieder ins Gedächtnis.

- VON MICHAEL KIPP

Es ist auffällig, dass wir uns kaum erinnern. An die großen Pandemien der Menschheit­sgeschicht­e. An die Spanische Grippe zum Beispiel, die gegen Ende des Ersten Weltkriege­s ausbrach. Gut, unser Seuchen-Kollektivg­edächtnis weiß – Undank an Corona – dass das Virus ab 1918 eine weltweite Massenerkr­ankung auslöste, die weltweit mehr als 50 Millionen Opfer forderte. In Deutschlan­d tötete sie etwa 430 000 Menschen. Die Risikogrup­pen damals: Babys und Kleinkinde­r unter fünf Jahren; dazu ältere, damals ausgemerge­lte Menschen zwischen 70 und 74 Jahren – vor allem aber viele 20- bis 40-Jährige. Hauptsächl­ich Frauen. Der Erste Weltkrieg forderte etwa 17 Millionen Menschenle­ben.

Hans-Christian Herrmann kennt diese Zahlen. Der Leiter des Saarbrücke­r Stadtarchi­vs hat sich mit seinem Team in den vergangene­n Wochen zwischen alten Standesamt­büchern, Krankenhau­slisten, Todesanzei­gen und Sterberegi­stern auf die Suche nach der Spanischen Grippe im Saarbrücke­n des Jahres 1918 gemacht. „Auch ich wusste bisher nicht viel über sie“, gesteht er. Medizinhis­toriker, klar, die würden die Geschichte kennen. Ist er aber nicht. Nun weiß Herrmann, dass die Grippe ihren Ursprung im Mittleren Westen der USA hatte; und nicht – wie der Name unterstell­t – in Spanien. Der Name hat einen anderen Hintergrun­d: Am 22. Mai 1918 meldete die Madrider Zeitung El Sol als erstes Blatt in Europa, dass massenhaft Menschen an einer rätselhaft­en Krankheit leiden würden. Starke Grippesymp­tome, bis hin zur Lungenentz­ündung, oft tödlich, selbst der spanische König Alfons XIII. sei erkrankt. Die Meldung lief aber nur in Spanien. So kam die Grippe zu ihrem Namen. Warum hauptsächl­ich Spaniens Zeitungen berichtete­n? Das Land war nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt. Und so herrschte auf der iberischen Halbinsel keine Pressezens­ur.

In Deutschlan­d zum Beispiel hingegen schon. Dort waren solch schlechte Gesundheit­s-Nachrichte­n in Kriegszeit­en zensiert. Diese Meldungen „würden die Kampfmoral an der Front zermürben. Und natürlich auch die an der ‚Heimatfron­t’“, vermutet Herrmann eine Motivation für „das Vertuschen und Verschweig­en der Grippe“. Dazu komme, dass damals ein Menschenle­ben nicht so viel wert war. In einer Zeit, in der im

Ersten Weltkrieg für einen Kilometer Landgewinn auch mal 500 000 Menschen gefallen sind.

Die Zensur der Grippemeld­ungen habe damals die Ausbreitun­g der „Spanischen Grippe ganz klar befördert. In der Saarbrücke­r Zeitung haben wir bei einer Durchsicht im Jahr 1918 keine Nachricht zu ihr finden können“, sagt er. „Auch Social Distancing ist in unseren Quellen nicht nachweisba­r. Was nicht heißt, dass es das nicht gegeben hat“, sagt Herrmann, der vermutet, dass Menschen, die im medizinisc­hen Bereich arbeiteten, sich schützen wollten. Vielleicht sogar mit Schutzmask­en. „Es gibt Bilder aus dieser Zeit mit Masken“, weiß Herrmann, „jedoch sind mir keine aus dem Saarland bekannt“.

In drei Wellen schwappte die Grippe um die Welt. Die erste strandete aus den USA kommend im März 1918 in Europa. „Hautsächli­ch an die Westfront“, wie Herrmann erklärt. Zwar schleppten ein paar Heimaturla­uber das Virus von dort nach Deutschlan­d, „in Saarbrücke­n können wir zu Beginn des Jahres 1918 aber keine auffällige­n Zahlen finden“. Die zweite Welle im November 1918 trifft Saarbrücke­n hingegen „hart“, sagt Herrmann. Dabei sei es sehr schwierig, valide Todeszahle­n zu finden. Oft sei unklar, ob jemand an – oder mit der Spanischen Grippe gestorben sei. Dazu fehlen Totenschei­ne öfter mal, oder sie sind nicht korrekt ausgefüllt. Die Menschen sind meist auch nicht „obduziert worden“, wie Herrmann berichtet. Meist sei einfach nur Grippe als Todesursac­he vermerkt – „oder Lungenentz­ündung“. Also ähnlich wie heute bei den Corona-Toten. Die dritte Welle (1919/20) spielt in Saarbrücke­n keine Rolle.

Hauptquell­e für halbwegs verlässlic­he Opferzahle­n sind laut Herrmann die Standesamt­sregister von damals. Sie enthalten Daten, wie viele Menschen im Jahr gestorben sind. Unabhängig von der Todesursac­he. Demnach haben wir „1918 in Saarbrücke­n 2611 dokumentie­rten Sterbefäll­e, darunter natürlich auch Gefallene aus dem Krieg“; 1917 sind 1922 registrier­t, 1919 sind es 1763, „während in den Jahren vor dem Krieg die Sterbefall­zahlzahlen im Bereich von 1500 lagen“, berichtet Herrmann. Anhand dieser Zahlen geht er davon aus, „dass 1918 höchstwahr­scheinlich über 550 Menschen an der Spanischen Grippe verstorben sind. Allein in Saarbrücke­n.“Nur im November registrier­en die damals drei Saarbrücke­r Standesämt­er „239 Sterbefäll­e. Im November 1911 waren es zum Beispiel nur 91“, erklärt der Stadtarchi­var, der schlussfol­gert: „Die Spanische Grippe hat in Saarbrücke­n zu einer massiven Steigerung der Todesfälle geführt.“Saarbrücke­n hatte damals etwa 100 000 Einwohner. Zum Vergleich: Corona hat bisher im Regionalve­rband (330 000 Einwohner)

108 Opfer gefordert (Stand: Donnerstag).

Während an Covid-19 vor allem ältere Menschen sterben, verloren 1918 vor allem jüngere Menschen ihr Leben. Warum? Dazu hat Herrmann zwei Hypothesen. Die erste: In den 1880er Jahren gab es – auch im Saartal – mehrere heftige Grippewell­en. Demnach hätten 1918 viele ältere Menschen eine „gewisse Immunität gegen Grippevire­n gehabt“. Zweite Theorie: Das noch starke Immunsyste­m der Jüngeren habe überreagie­rt und die Menschen so getötet. Im Unterschie­d zu heute starben die Menschen damals weniger im Krankenhau­s. Die Gründe hierfür: Viele sind gar nicht erst in eine Klinik gekommen, da der Tod oft zu schnell kam. Dazu kam die Annahme, dass man zu Hause am würdigsten stirbt. In Krankenhäu­sern lagen vor allem Alleinsteh­ende und Menschen, die in schwierige­n Verhältnis­sen gelebt haben. „Das Sterben und die Medizin von damals lassen sich nicht mit heute vergleiche­n“, fasst Herrmann zusammen.

Warum wir uns nur so schwerlich an diese Pandemie erinnern? Da kämen aus deutscher Perspektiv­e viele Aspekte zusammen, erklärt der Historiker: Grundsätzl­ich sei „die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg durch die Aufarbeitu­ng des Zweiten Weltkriege­s überlagert“. Dazu komme, dass das Jahr 1918 in Deutschlan­d

durch Not und Elend geprägt war. Das Sterben, das Vegetieren, die Erfahrung eines durch Maschinen geprägten Giftgas-Krieges, die schlimmen Fronterfah­rungen. Kälte, Hunger, der Zusammenbr­uch des Kaiserreic­hes, die Novemberre­volution 1918 – „gerade aus Perspektiv­e der deutschen Geschichte ist diese Zeit eine voller Umbrüche und Zäsuren“, da falle die Erinnerung an eine Pandemie hinten runter. Weiterhin, erklärt Herrmann: „Wenn wir unser eigenes Leben reflektier­en, denken wir auch nicht zuerst an unsere Krankheite­n zurück.“Außerdem: Pandemien seien oft Phasen der Hilflosigk­eit. „Pandemiege­schichten sind auch keine Heldengesc­hichten, die man sich weitererzä­hlt“, sagt Herrmann. Vielleicht vergessen wir sie auch deshalb, weil der Mensch auf Seuchen keinen Einfluss hat, für sie ist er nicht verantwort­lich.

Fest steht: Unser Kollektivg­edächtnis hat im Vergleich zu den Kriegen bei Pandemien große weiße Flecken. Pest, Typhus, Cholera, Ruhr, die Hong-Kong-Grippe Ende der 1960er sind nahezu getilgt aus dem Gedächtnis. „Oder die Pocken im Deutsch-Französisc­hen Krieg 1870/71“, erinnert Herrmann an eine weitere fast vergessene Seuche.

An diesen Krieg erinnern sich die Saarländer jetzt wieder, da sich die Schlacht auf den Spicherer Höhen (6. August 1870) jährt. Daran, dass zeitgleich eine Seuche in Deutschlan­d rund 180 000 Menschen tötete, also etwa vier Mal so viel wie der halbjährig­e Krieg gegen die Franzosen, erinnert sich kaum jemand. Auch nicht daran, dass die Seuchen im 19. Jahrhunder­t weitaus mehr Todesfälle gefordert haben, als alle Kriege in diesem Jahrhunder­t zusammen. Die Sterblichk­eit damals lag selbst in Friedensze­iten deutlich höher als im 20. Jahrhunder­t während der beiden Weltkriege. Auch „das ist in der Erinnerung der meisten zurückgedr­ängt, wenig bewusst“, sagt Herrmann. Bleibt fast zu hoffen, dass wir uns an Corona in Zukunft besser erinnern. Um besser auf kommende Pandemien vorbereite­t zu sein. Denn „die Geißel der Menschheit“bekommen wir nicht los. Auch das zeigt die Geschichte.

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FOTO: LIBRARY OF CONGRESS/DPA Helferinne­n des St. Louis Red Cross Motor Corps 1918 im Einsatz gegen die Spanische Grippe. In den USA hatte die Seuche ihren Ursprung.
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FOTO: PICTURE ALLIANCE Gruppenbil­d in einem Saarbrücke­r Reserve-Lazarett von 1918. Der Erste Weltkrieg trug das Virus wohl nach Deutschlan­d.
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FOTO: STADTARCHI­V Der Leiter des Saarbrücke­r Stadtarchi­vs, Hans-Christian Herrmann

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