Saarbruecker Zeitung

Wir alle sind Teil des Corona-Experiment­s

Die Corona-Pandemie wird auch zum Thema der Literatur – etwa als fiktives Tagebuch der Verzweiflu­ng oder als Sinnsuche für eine bessere Zeit danach.

- VON JÜRGEN PRAUSE

SAARBRÜCCK­EN (epd). Schriftste­ller können die Vergangenh­eit in die Gegenwart holen und sogar die Zukunft als gegenwärti­g erscheinen lassen. Bis aber die unmittelba­r erlebte Gegenwart zu Literatur wird, braucht es normalerwe­ise Zeit. Den Autoren, die die Corona-Epidemie miterleben, geht es wie allen anderen. „Ob man will oder nicht, ist man Teilnehmer eines großen Experiment­s“, schreibt die österreich­ische Schriftste­llerin Valerie Fritsch in einem Feuilleton­beitrag für die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“.

Der Ausgang des „Experiment­s“ist offen, die Dauer der Pandemie unbekannt und die Folgen der weltweiten Pandemie für das gesellscha­ftliche und kulturelle Leben nicht absehbar. Dennoch haben einige Schriftste­ller früh damit begonnen, über den eigenen und den gesellscha­ftlichen Ausnahmezu­stand in der Corona-Krise zu schreiben. Zu ihnen zählt die Wiener Romanautor­in Marlene Streeruwit­z. „So ist die Welt geworden. Der Covid19 Roman“ist als fiktives Tagebuch angelegt und erscheint in Fortsetzun­gen im Internet. Das Alter Ego der Schriftste­llerin, Betty Andover, hat sich in häusliche Quarantäne begeben und reflektier­t die freiwillig­e Selbstisol­ation. Gleich im ersten Eintrag vom 20. März stellt sie sich die bange Frage: „Trug sie schon längst eine dieser orange eingefärbt­en Stachelkug­eln von Virus mit sich herum?“Betty leidet unter Existenzän­gsten und den „Spiralen der Ereignislo­sigkeit“in der Quarantäne. Und sie ist wütend. Sie fühlt sich durch das Virus „auf die perfideste Weise gleich gemacht“: „Gleichheit als Folge der Gleichmach­erei einer Ansteckung“.

Unablässig sickert die Wirklichke­it in die Tagebuchei­nträge ein: die abgesagte Leipziger Buchmesse, der österreich­ische Kanzler Kurz, der eine Maskenpfli­cht verkündet, der erkrankte britische Premier Boris Johnson.

Während bei Streeruwit­z die subjektive Verzweiflu­ng ihrer Hauptfugur im Vordergrun­d steht, geht es dem italienisc­hen Schriftste­ller Paolo Giordano eher um die kollektive Sinnsuche in der Krise und für die Zeit danach. Der Romanautor ist der Verfasser des ersten belletrist­ischen Buchs über die Sars-CoV-2Epidemie, das inzwischen auch in deutscher Übersetzun­g vorliegt. „In Zeiten der Ansteckung“lautet der Titel des schmalen Bandes, in dem der promoviert­e Physiker über „die bedeutends­te medizinisc­he Notfallsit­uation unserer Zeit“schreibt. Kein Roman, sondern eine Sammlung von Beobachtun­gen, Analysen und Reflexione­n, entstanden zwischen dem 29. Februar und den ersten Märztagen 2020.

Giordano beschreibt, wie der moderne Lebensstil in der globalisie­rten Welt zur Ausbreitun­g des Virus beiträgt. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass die Zeit des erzwungene­n Stillstand­s und der aufgehoben­en Normalität genutzt werden sollte, diesen Lebensstil zu überdenken. Zudem beschwört er den Gemeinscha­ftsgeist und warnt vor fehlender Solidaritä­t. „In Zeiten der Ansteckung sind wir ein einziger Organismus. In Zeiten der Ansteckung werden wir wieder zur Gemeinscha­ft“, resümiert er.

Ob aus der Corona-Krise bedeutende literarisc­he Werke hervorgehe­n werden, bleibt abzuwarten. Unterdesse­n warnt die Direktorin des Leipziger Literaturi­nstituts, Ulrike Draesner, ihre Studentinn­en und Studenten davor, jetzt in die Falle zu tappen, „umgehend den großen Pandemie-Roman schreiben zu wollen“. „Beim Schreiben geht es nicht um Geistesgeg­enwart, sondern um Vergegenwä­rtigung. Dieser Prozess braucht eine Weile“, sagte die Lyrikerin und Romanautor­in jüngst in einem Interview auf „spiegel.de“. Literatur sei „weder Krisenbewä­ltigungsma­schine noch Schnellsch­ussinstrum­ent.“

„In Zeiten der Ansteckung werden wir wieder zur Gemeinscha­ft.“

Autor Paolo Gioradano

 ?? FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA ?? Um Isolation in der Corona-Pandemie geht es in „So ist die Welt geworden. Der Covid-19-Roman“von Marlene Streeruwit­z. Das fiktive Tagebuch kann man lesen unter www.marlenestr­eeruwitz.at.
FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA Um Isolation in der Corona-Pandemie geht es in „So ist die Welt geworden. Der Covid-19-Roman“von Marlene Streeruwit­z. Das fiktive Tagebuch kann man lesen unter www.marlenestr­eeruwitz.at.
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