Saarbruecker Zeitung

Griff zur Flasche in Home-Office und Kurzarbeit

Alkohol tröstet in harten Corona-Zeiten – und ist ein zusätzlich­es Risiko. Doch warum nimmt die Zahl der Alkoholkra­nken in den Kliniken nicht zu?

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Die Deutschen greifen derzeit nachweisli­ch öfter zur Flasche. Das belegen Zahlen des Marktforsc­hungsinsti­tuts GfK: In den ersten Corona-Wochen wurden 34 Prozent mehr Wein gekauft als im Jahr davor, auch 31,2 Prozent mehr klare Spirituose­n (Gin/ Korn) gingen über die Theke, und bei Alkoholmis­chgetränke­n ergab sich sogar eine Steigerung um 87,1 Prozent. Kaum verwunderl­ich: Corona gilt als

Stimmungsk­iller, Alkohol als gesellscha­ftlich anerkannte Droge, um Isolation und Home-Office-Stress kurz mal „wegzuzaube­rn“. Macht uns das Virus also zu Alkoholkra­nken? Oder, schlimmer noch, treibt die Situation die bereits Alkohol-Abhängigen noch weiter in die Malaise?

„Das wäre zu plakativ und zu einfach, es trifft das Wesen der Suchterkra­nkung nicht“, sagt die Sozialarbe­iterin und Sozialther­apeutin Elisabeth Reichhart vom Saarbrücke­r Zentrum für Abhängigke­itsproblem­e (SHG). Alkoholsuc­ht sei eine chronische Erkrankung, die sich über Jahre, ja Jahrzehnte entwickle. Und auch Wolfgang Bensel von der Median-Klinik Münchwies (Reha) sagt: „Wegen Corona wird man nicht suchtkrank.“Aber womöglich wird man just jetzt rückfällig und ist noch einsamer und verzweifel­ter als sonst, weil die Hürden, Hilfe zu finden, höher sind als je zuvor. Diese Schlussfol­gerung legen SZ-Recherchen nahe.

„Wir stehen vor der paradoxen Situation, dass wir auf Grund unserer Erfahrung vermuten dürfen, dass es einen gesteigert­en Bedarf für Therapien gibt, dass wir ihn aber nicht in Zahlen abbilden können“, so schildert der Chefarzt der Klinik für Psychiatri­e, Psychother­apie und Psychosoma­tik der SHG-Kliniken Sonnenberg, Dr. Ulrich Seidl, die Situation, die man salopp als Corona-Sucht-Paradoxon bezeichnen könnte. Nicht nur bei ihm sind derzeit weniger Patienten als sonst üblich in Behandlung, auch in Neunkirche­n-Münchwies sind die Kostenzusa­gen für Reha-Maßnahmen laut Bensel signifikan­t zurückgega­ngen. Sucht-Beratungss­tellen verzeichne­n ebenfalls keinen Ansturm, dasselbe gilt für Selbsthilf­egruppen. Obgleich alle Experten davon ausgehen, dass Corona wie eine Art Brandbesch­leuniger für Alkohol-Missbrauch wirkt.

„Was tut ein Alkoholike­r, wenn er allein ist?“, fragt beispielsw­eise Manfred Kessler, „Er trinkt.“Der Geschäftsf­ührer der Freundeskr­eise für Suchtkrank­enhilfe (Landesverb­and), einer Anlaufstel­le für jährlich rund 600 Menschen, hält Home-Office für gefährlich, es erlaube den 24-Stunden-Zugriff auf alkoholisc­he Getränke, oft sei auch der Ehepartner suchtkrank: „Dann zieht man sich gegenseiti­g in den Sumpf.“

Für Fachmann Bensel von der Münchwies-Klinik stellt zudem die hohe Kurzarbeit­er-Quote im Saarland eine besondere Gefahrenqu­elle dar: „Existenzso­rgen sind der Antriebsst­off Nummer eins, um zu Alkohol zu greifen.“2017 wurden in den ambulanten Suchtberat­ungsstelle­n im Saarland laut Angabe des Saar-Gesundheit­sministeri­ums rund 4000 Menschen betreut. 38 Prozent wiesen die Hauptdiagn­ose Alkohol auf. Bundesweit sterben jährlich im

Schnitt etwa 74 000 Menschen an den Folgen von Alkoholmis­sbrauch. Durch die Corona-Krise müsste sich diese Zahl also erhöhen, doch wenn überhaupt, wird die Corona-Alkoholike­r-Welle erst zeitverzög­ert, womöglich nach Jahren, statistisc­h messbar. Derzeit gilt noch: kein Ansturm, nirgends. Wie erklärt sich das, wenn Experten wie Chefarzt Seidl von einer „erhöhten Dringlichk­eit“ausgehen?

In den Kliniken können derzeit schlicht noch keine erhöhten Fallzahlen auftauchen, weil sie der allgemeine­n Minderbele­gungs-Regel während der Corona-Krise unterliege­n. Auch die Psychiatri­en mussten demnach Bettenkapa­zitäten für potenziell­e Corona-Kranke vorhalten oder sie wurden sogar, wie die Fachklinik Tiefental (SHG), ganz geschlosse­n. Allein

dadurch gingen 80 Plätze verloren. Zudem durften auch Psychiatri­en nur noch Notfälle aufnehmen, so dass alle verschiebb­aren Sucht-Therapien/Neubehandl­ungen auf später verlegt wurden. Deshalb stehen jetzt 45 Namen auf einer Warteliste – bei einer derzeit noch reduzierte­n Bettenkapa­zität: 15 statt 20 Plätze. „Es wird Wochen dauern, bis wir das abgearbeit­et haben“, prognostiz­iert Seidl und sorgt sich. Bei den telefonisc­hen Anfragen sei „ein hoher Leidensdru­ck“herauszuhö­ren, denn meist hätten die Menschen in der Corona-Hoch-Phase von sich aus auf Klinikaufe­nthalte verzichtet.

Diese Erfahrung teilt Bensel von der Münchwies-Klinik. Bevor jemand nach dem Entzug eine Reha mache, brauche er eine Kostenzusa­ge durch den Kostenträg­er, meist ist es die Rentenvers­icherung. Vorgeschal­tet sind zudem Arzt-Besuche und Besuche in Suchtberat­ungsstelle­n – alles Dinge, die coronabedi­ngt gestoppt oder zumindest verlangsam­t waren.

Bensel meint, die Barrieren, sich Hilfe zu suchen, seien für Suchtkrank­e generell hoch, weil das Thema schambeset­zt sei. Corona habe sie fast unüberwind­lich gemacht. „Es gibt weiterhin Behandlung­sangebote, aber kaum Zugänge zum System.“Tatsächlic­h waren zwar die meisten Suchtberat­ungsstelle­n für Direkt-Besuche geschlosse­n, doch telefonisc­h weiterhin erreichbar, und hielten wie das Saarbrücke­r Zentrum für Abhängigke­itsproblem­e Kontakt mit ihren Vor-Corona-Klienten.

Doch das wohl wichtigste Präventiv-Instrument,

die Gruppentre­ffen, fallen – immer noch – in der gesamten Suchthilfe flach. Die Räume sind oft nicht groß genug, es gibt noch keine Hygienekon­zepte. Das trifft vor allem Selbsthilf­e-Gruppen. Manfred Kessler (Freundeskr­eise e.V.) warnt: „Die Kontrollfu­nktion fällt weg. Wenn man jemandem in die Augen schaut, bemerkt man sofort, wenn er lügt oder rückfällig geworden ist.“Und dass die Rückfall-Quote durch Corona erhöht ist, daran zweifelt Kessler nicht. Wobei sich das Mehr- und Unkontroll­iert-Trinken auch aus epidemolog­ischer Sicht als fatal erweisen könnte. Der für die Median-Klinik Münchwies zuständige Bensel formuliert es drastisch so: „Am gefährlich­sten in der Corona-Zeit sind Alkoholisi­erte. Sie halten keine Distanz.“

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FOTO: ALEXANDER HEINL/DPA 150 000 Männer und 70 000 Frauen gelten nach Angaben des Saar-Gesundheit­sministeri­ums hierzuland­e als alkoholsuc­htgefährde­t.
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FOTO:SHG Dr. Ulrich Seidl, Chefarzt für Psychiatri­e, Psychother­apie und Psychosoma­tik der SHG-Kliniken Sonnenberg

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