Griff zur Flasche in Home-Office und Kurzarbeit
Alkohol tröstet in harten Corona-Zeiten – und ist ein zusätzliches Risiko. Doch warum nimmt die Zahl der Alkoholkranken in den Kliniken nicht zu?
Die Deutschen greifen derzeit nachweislich öfter zur Flasche. Das belegen Zahlen des Marktforschungsinstituts GfK: In den ersten Corona-Wochen wurden 34 Prozent mehr Wein gekauft als im Jahr davor, auch 31,2 Prozent mehr klare Spirituosen (Gin/ Korn) gingen über die Theke, und bei Alkoholmischgetränken ergab sich sogar eine Steigerung um 87,1 Prozent. Kaum verwunderlich: Corona gilt als
Stimmungskiller, Alkohol als gesellschaftlich anerkannte Droge, um Isolation und Home-Office-Stress kurz mal „wegzuzaubern“. Macht uns das Virus also zu Alkoholkranken? Oder, schlimmer noch, treibt die Situation die bereits Alkohol-Abhängigen noch weiter in die Malaise?
„Das wäre zu plakativ und zu einfach, es trifft das Wesen der Suchterkrankung nicht“, sagt die Sozialarbeiterin und Sozialtherapeutin Elisabeth Reichhart vom Saarbrücker Zentrum für Abhängigkeitsprobleme (SHG). Alkoholsucht sei eine chronische Erkrankung, die sich über Jahre, ja Jahrzehnte entwickle. Und auch Wolfgang Bensel von der Median-Klinik Münchwies (Reha) sagt: „Wegen Corona wird man nicht suchtkrank.“Aber womöglich wird man just jetzt rückfällig und ist noch einsamer und verzweifelter als sonst, weil die Hürden, Hilfe zu finden, höher sind als je zuvor. Diese Schlussfolgerung legen SZ-Recherchen nahe.
„Wir stehen vor der paradoxen Situation, dass wir auf Grund unserer Erfahrung vermuten dürfen, dass es einen gesteigerten Bedarf für Therapien gibt, dass wir ihn aber nicht in Zahlen abbilden können“, so schildert der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der SHG-Kliniken Sonnenberg, Dr. Ulrich Seidl, die Situation, die man salopp als Corona-Sucht-Paradoxon bezeichnen könnte. Nicht nur bei ihm sind derzeit weniger Patienten als sonst üblich in Behandlung, auch in Neunkirchen-Münchwies sind die Kostenzusagen für Reha-Maßnahmen laut Bensel signifikant zurückgegangen. Sucht-Beratungsstellen verzeichnen ebenfalls keinen Ansturm, dasselbe gilt für Selbsthilfegruppen. Obgleich alle Experten davon ausgehen, dass Corona wie eine Art Brandbeschleuniger für Alkohol-Missbrauch wirkt.
„Was tut ein Alkoholiker, wenn er allein ist?“, fragt beispielsweise Manfred Kessler, „Er trinkt.“Der Geschäftsführer der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe (Landesverband), einer Anlaufstelle für jährlich rund 600 Menschen, hält Home-Office für gefährlich, es erlaube den 24-Stunden-Zugriff auf alkoholische Getränke, oft sei auch der Ehepartner suchtkrank: „Dann zieht man sich gegenseitig in den Sumpf.“
Für Fachmann Bensel von der Münchwies-Klinik stellt zudem die hohe Kurzarbeiter-Quote im Saarland eine besondere Gefahrenquelle dar: „Existenzsorgen sind der Antriebsstoff Nummer eins, um zu Alkohol zu greifen.“2017 wurden in den ambulanten Suchtberatungsstellen im Saarland laut Angabe des Saar-Gesundheitsministeriums rund 4000 Menschen betreut. 38 Prozent wiesen die Hauptdiagnose Alkohol auf. Bundesweit sterben jährlich im
Schnitt etwa 74 000 Menschen an den Folgen von Alkoholmissbrauch. Durch die Corona-Krise müsste sich diese Zahl also erhöhen, doch wenn überhaupt, wird die Corona-Alkoholiker-Welle erst zeitverzögert, womöglich nach Jahren, statistisch messbar. Derzeit gilt noch: kein Ansturm, nirgends. Wie erklärt sich das, wenn Experten wie Chefarzt Seidl von einer „erhöhten Dringlichkeit“ausgehen?
In den Kliniken können derzeit schlicht noch keine erhöhten Fallzahlen auftauchen, weil sie der allgemeinen Minderbelegungs-Regel während der Corona-Krise unterliegen. Auch die Psychiatrien mussten demnach Bettenkapazitäten für potenzielle Corona-Kranke vorhalten oder sie wurden sogar, wie die Fachklinik Tiefental (SHG), ganz geschlossen. Allein
dadurch gingen 80 Plätze verloren. Zudem durften auch Psychiatrien nur noch Notfälle aufnehmen, so dass alle verschiebbaren Sucht-Therapien/Neubehandlungen auf später verlegt wurden. Deshalb stehen jetzt 45 Namen auf einer Warteliste – bei einer derzeit noch reduzierten Bettenkapazität: 15 statt 20 Plätze. „Es wird Wochen dauern, bis wir das abgearbeitet haben“, prognostiziert Seidl und sorgt sich. Bei den telefonischen Anfragen sei „ein hoher Leidensdruck“herauszuhören, denn meist hätten die Menschen in der Corona-Hoch-Phase von sich aus auf Klinikaufenthalte verzichtet.
Diese Erfahrung teilt Bensel von der Münchwies-Klinik. Bevor jemand nach dem Entzug eine Reha mache, brauche er eine Kostenzusage durch den Kostenträger, meist ist es die Rentenversicherung. Vorgeschaltet sind zudem Arzt-Besuche und Besuche in Suchtberatungsstellen – alles Dinge, die coronabedingt gestoppt oder zumindest verlangsamt waren.
Bensel meint, die Barrieren, sich Hilfe zu suchen, seien für Suchtkranke generell hoch, weil das Thema schambesetzt sei. Corona habe sie fast unüberwindlich gemacht. „Es gibt weiterhin Behandlungsangebote, aber kaum Zugänge zum System.“Tatsächlich waren zwar die meisten Suchtberatungsstellen für Direkt-Besuche geschlossen, doch telefonisch weiterhin erreichbar, und hielten wie das Saarbrücker Zentrum für Abhängigkeitsprobleme Kontakt mit ihren Vor-Corona-Klienten.
Doch das wohl wichtigste Präventiv-Instrument,
die Gruppentreffen, fallen – immer noch – in der gesamten Suchthilfe flach. Die Räume sind oft nicht groß genug, es gibt noch keine Hygienekonzepte. Das trifft vor allem Selbsthilfe-Gruppen. Manfred Kessler (Freundeskreise e.V.) warnt: „Die Kontrollfunktion fällt weg. Wenn man jemandem in die Augen schaut, bemerkt man sofort, wenn er lügt oder rückfällig geworden ist.“Und dass die Rückfall-Quote durch Corona erhöht ist, daran zweifelt Kessler nicht. Wobei sich das Mehr- und Unkontrolliert-Trinken auch aus epidemologischer Sicht als fatal erweisen könnte. Der für die Median-Klinik Münchwies zuständige Bensel formuliert es drastisch so: „Am gefährlichsten in der Corona-Zeit sind Alkoholisierte. Sie halten keine Distanz.“