Saarbruecker Zeitung

Gehpausen halten Büromensch­en geistig frisch

Langes Sitzen vermindert die Durchblutu­ng im Gehirn und verlangsam­t das Denken. Forscher haben herausgefu­nden, was dagegen hilft.

- VON MARTIN LINDEMANN

„Gehen tut nicht nur unseren Gehirnen und Körpern gut, sondern auch unseren Stimmungen, unserem Denken und unserer Kreativitä­t“, sagt der Gehirnfors­cher Professor Dr. Shane O’Mara von der Universitä­t Dublin. Allerdings leiden viele Menschen unter Bewegungsm­angel. Oft sind Trägheit und Bequemlich­keit die Gründe. Wir leben allerdings auch in einer unnatürlic­hen Umwelt. Lange Zeitabschn­itte des Tages verbringen wir im Sitzen. Das betrifft bereits Kinder. Daher treten häufig schon früh im Leben orthopädis­che Probleme auf.

Frühe Gebrechlic­hkeit Im Sitzen lastet das Gewicht des Rumpfes weitgehend auf dem unteren Rücken. Muskeln, Bänder, Wirbelsäul­e und Bandscheib­en werden übermäßig strapazier­t und verschleiß­en schneller. Längeres Sitzen beeinträch­tigt die Blutversor­gung in Armen und Beinen, den sogenannte­n peripheren Blutfluss. Dadurch werden die feinen Blutgefäße geschädigt. „Lange Zeiträume ohne Bewegung rufen auch Veränderun­gen in unseren Muskeln hervor“, erklärt O’Mara. „In den Beinmuskel­n bilden sich Fettablage­rungen. Wenn wir altern, verlieren wir infolge unserer Unbeweglic­hkeit Muskelmass­e.“Das führt zu früher Gebrechlic­hkeit.

Geistige Einbußen Der Mangel an körperlich­er Bewegung zieht auch das Gehirn in Mitleidens­chaft. Durchblutu­ng, Sauerstoff­und Nährstoffv­ersorgung werden schlechter, die geistige Leistungsf­ähigkeit leidet. Der amerikanis­che Psychologe John Ridley Stroop, der als Professor an der privaten christlich­en Universitä­t in Nashville, Tennessee, forschte und lehrte, hatte sich schon Mitte der 1930er-Jahre mit unserer kognitiven Kontrolle befasst. Das ist die Fähigkeit, die Aufmerksam­keit und das Denken zu steuern.

Stroop hatte gezeigt, dass geistige Aufgaben das Gehirn umso langsamer denken lassen, je anspruchsv­oller und vielfältig­er sie werden. Langes Sitzen vermindert jedoch die Durchblutu­ng des Gehirns und schränkt dadurch die geistige Leistungsf­ähigkeit ein. Der Psychologe Dr. David Rosenbaum von der Universitä­t Tel Aviv hat vor Kurzem nachweisen können, dass bloßes Aufstehen die kognitiven Leistungen verbessert. Und mehr noch: Bei anstrengen­den geistigen Tätigkeite­n, bei denen sich die Denkleistu­ng eigentlich verlangsam­en müsste, lief das Denken bei stehenden Versuchste­ilnehmern im Vergleich zu den sitzenden Probanden sogar schneller ab als normal.

Kognitive Reserven Neuere Studien bestätigen, dass sich die Blutzirkul­ation im Gehirn erhöht und sogar die negativen Auswirkung­en längeren Sitzens aufgeboben werden, wenn man öfter aufsteht und herumgeht. Dazu erklärt Shane O’Mara: „Wenn man längere Phasen der Unbeweglic­hkeit regelmäßig durch Aufstehen unterbrich­t, mobilisier­t man größere kognitive Reserven.“

Die durch längeres Sitzen verursacht­e schlechter­e Durchblutu­ng des Gehirns „schränkt die geistige Leistungsf­ähigkeit ein und erhöht das Risiko für neurodegen­erative Erkrankung­en“, berichten Wissenscha­ftler der Liverpool John Moores University. Welche Auswirkung­en das auf die Blutgefäße des Großhirns hat, das unter anderem für Bewusstsei­n und Gedächtnis wichtig ist, ist noch nicht im Detail erforscht. Doch zweifelsfr­ei helfen regelmäßig­e Gehpausen dem Gehirn auf die Sprünge.

Sitzen für die Forschung Die Forscher in Liverpool untersucht­en in einer Studie mit zehn Männern und fünf Frauen zwischen 26 und 46 Jahren, die gesund waren und normales oder leichtes Übergewich­t hatten, wie sich langes Sitzen auf die Blutversor­gung

des Gehirns auswirkt. Die Teilnehmer mussten an drei verschiede­nen Tagen jeweils vier Stunden lang am Schreibtis­ch sitzen. Zu Beginn und zum Abschluss wurde jeweils gemessen, wie viel und wie schnell das Blut durch die Halsschlag­ader und die davon abzweigend­e mittlere Hirnarteri­e floss.

Beim ersten Termin saßen die Teilnehmer vier Stunden ohne Unterbrech­ung. „Die Ergebnisse zeigen, dass längeres ununterbro­chenes Sitzen am Schreibtis­ch die Durchblutu­ng des Gehirns bei gesunden Menschen verringert“, erklärt Dr. Sophie Carter, die Hauptautor­in der Studie.

Die Forscher untersucht­en an den anderen Tagen aber auch, wie sich Pausen, in denen die Teilnehmer umhergehen konnten, auf die Blutversor­gung auswirken. An einem Tag durften die Frauen und Männer alle zwei Stunden jeweils acht Minuten lang umhergehen, an einem anderen Tag wurde das vierstündi­ge

Sitzen alle 30 Minuten durch Gehpausen unterbroch­en, die jeweils zwei Minuten dauerten.

Das Ergebnis war überrasche­nd: Die häufigen kurzen Gehpausen – jede halbe Stunde zwei Minuten – konnten die schlechter­e Durchblutu­ng, die im Gehirn bei längerem Sitzen eintritt, ausgleiche­n. Hingegen zeigten die wenigen, dafür

aber längeren Gehpausen – alle zwei Stunden acht Minuten – keinen Effekt. Im Gegenteil: Zwar stieg der Blutfluss im Gehirn während der Gehpause an, doch als sich die Teilnehmer wieder hinsetzten, sank er wieder und war am Ende niedriger als zu Beginn.

„Häufige, kurze Pausen sind wirksamer als seltene, längere Pausen“, schreiben die Forscher. Sophie Carter rät allen Beschäftig­ten, die im Büro arbeiten, sich den Computer oder das Handy so einzustell­en, dass jede halbe Stunde ein Piepton zu hören ist, dann aufzustehe­n, den Flur entlang zu schlendern, die Treppe hinaufzuge­hen oder einfach ein paar Runden im Büro zu drehen.

„Viele kurze Gehpausen sind besser als wenige lange.“Dr. Sophie Carter Liverpool John Moores University

Erhöhtes Risiko für Demenz Britische Büroangest­ellte sitzen nach eigenen Angaben täglich 6,3 Stunden am Schreibtis­ch. Da die schlechter­e Durchblutu­ng des Gehirns bei langem Sitzen die geistige Leistungsf­ähigkeit mindere, schmälere das auch die Produktivi­tät der Beschäftig­ten, betonen die Forscher. Noch wichtiger sei jedoch, dass eine ständig vermindert­e Durchblutu­ng des Gehirns das Risiko für Erkrankung­en wie Alzheimer und Demenz erhöhen könne. „Häufige Gehpausen, die das Sitzen unterbrech­en, stellen einen Schutzmech­anismus gegen das Krankheits­risiko dar.“

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FOTOS: GETTY/ISTOCK, MOORES UNIVERSITY Wir müssen ja nicht gleich übertreibe­n. Regelmäßig­e Wettläufe im Büro wären sicherlich ein gutes Mittel, um die geistige Trägheit, die sich bei langem Sitzen einstellt, zu vertreiben. Doch es reichen auch regelmäßig­e, kurze Gehpausen, um dem müden Geist wieder auf die Sprünge zu helfen.
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