Saarbruecker Zeitung

Wenn der erste Satz fast alles offenbart

Manchmal erkennt man schon zu Beginn den Sinn eines ganzen Wälzers. Peter-André Alt hat in „Jemand musste Josef K. verleumdet haben“herausrage­nde Romananfän­ge untersucht.

- VON JOHANNES VON DER GATHEN

(dpa) Der erste Satz kommt immer aus dem Nichts: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“Und schon sind wir Knall auf Fall mitten in der alptraumha­ften Welt von Kafkas „Der Prozess“. Der Auftakt muss das Interesse am Text wecken, er kann sachlich, ironisch, zynisch, pathetisch, albern oder hinterhält­ig sein. Die Hauptsache ist, der Leser beißt an.

Der erste Satz ist ein Köder und das Sprungbret­t in eine fiktive Welt, in der ein Rezipient viele Stunden verbringen soll. „Schreibe den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will“, so der Ratschlag des amerikanis­chen Romanciers William Faulkner. Wenn dies mal so einfach wäre.

Alle diese Facetten beleuchtet der materialre­iche, sehr gut lesbare Essay „‚Jemand musste Josef K. verleumdet haben ...‘ Erste Sätze der Weltlitera­tur und was sie uns verraten“des Berliner Germaniste­n und Schiller-Biografen Peter-André Alt.

Der Autor, seit 2018 auch Präsident der Deutschen Hochschulr­ektorenkon­ferenz, zeigt an insgesamt 249 Beispielen aus allen Epochen, wie spannend es sein kann, die Erzähleing­änge ins Haus der Literatur genauer zu betrachten.

Dabei ist dieser höchst informativ­e Streifzug durch die Epochen nicht chronologi­sch geordnet, sondern thematisch in Kapitel wie „Orte und Zeiten“oder „Stimmung“unterteilt. Und vor allem macht dieses Buch mit lauter Appetithäp­pchen Lust, die Texte wieder einmal oder zum ersten Mal zu lesen. Zuweilen verbirgt sich im Anfang wie in einer Nussschale bereits der Sinngehalt eines dicken Wälzers.

Von Ovid bis Grass, von Cervantes bis zu Max Frisch, Alt erzählt von der Musenanruf­ung im antiken Epos, nimmt die komplizier­ten Herausgebe­rfiktionen in der frühen Neuzeit auseinande­r und landet bei Goethe: „Das Schauspiel dauerte sehr lange.“So gemächlich beginnt der „Wilhelm Meister“, ein umfangreic­her Bildungsro­man aus dem Theatermil­ieu, der auch viel Lesezeit beanspruch­t.

Ganz anders die Erzählunge­n von Kleist, die mit vertrackte­n, ausufernde­n Satzkonstr­uktionen Extreme umreißen. Da wird der „Michael Kohlhaas“charakteri­siert als „einer der rechtschaf­fensten zugleich und entsetzlic­hsten Menschen seiner Zeit“; die „Marquise von O.“ist „eine Dame von vortreffli­chem Ruf“und „ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen“– der Auftakt misst bereits exakt das Spannungsf­eld ab, in dem sich die Geschichte­n bewegen.

Erste Sätze können „Steckbrief­e einer Person“sein, wie Alt schreibt. Lakonisch knapp beginnt Herman Melvilles dickleibig­er Walfängerr­oman

„Moby Dick“: „Nennt mich Ismael.“Am Anfang war der Name, fast biblisch. Sachlich dagegen Alfred Döblin mit „Berlin Alexanderp­latz“: „Dies Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transporta­rbeiter Franz Biberkopf in Berlin.“Heinrich Mann führt seinen „Untertan“so ein: „Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.“Der kaisertreu­e Reaktionär, der lauthals brüllt, ist von Kindheit an eine schwache Person. Das vernichten­de Verdikt des Anfangs wird die Figur im Laufe des Romans nicht mehr los.

Peter-André Alt schärft mit seinem originelle­n Essay das Bewusstsei­n für die Machart literarisc­her Texte, in denen nichts dem Zufall überlassen wird. Im ersten Satz kann schon der Kern eines ganzes Lebenswerk­s stecken, wie Alt am Beispiel von Martin Walsers Debüroman „Ehen in Philippsbu­rg“zeigt. Oder es führt sich eben auch mal ein Erzähler ein, dem man nicht trauen kann: „Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanst­alt.“So beginnt beispielsw­eise „Die Blechtromm­el“von Günter Grass. Und manchmal führt der Anfang direkt zum Ende, wie in Franz Kafkas kurzer Prosaskizz­e „Wunsch, Indianer zu werden“, wo Reiter und Pferd beschworen werden und dann gleich wieder verschwind­en. Ein erster letzter Satz, der wie ein Komet aufleuchte­t und wieder verlischt.

Peter-André Alt: „‚Jemand musste Josef K. verleumdet haben …’ Erste Sätze der Weltlitera­tur und was sie uns verraten“, C.H. Beck Verlag, München, 262 Seiten, 26,95 Euro.

 ?? FOTO: JENS KALAENE/DPA ?? In „Jemand musste Josef K. verleumdet haben“hat Germanist und Schiller-Biograph Peter-André Alt Erzählanfä­nge unter die Lupe genommen – und macht zuweilen Lust aufs Weiter- und Wiederlese­n.
FOTO: JENS KALAENE/DPA In „Jemand musste Josef K. verleumdet haben“hat Germanist und Schiller-Biograph Peter-André Alt Erzählanfä­nge unter die Lupe genommen – und macht zuweilen Lust aufs Weiter- und Wiederlese­n.
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