Corona killt den Heimvorteil
In den ersten 27 Spielen in der Fußball-Bundesliga seit dem Neustart gab es nur fünf Heimsiege. Ein neuer Trend?
(sid) Ist Borussia Dortmund ohne die berühmt-berüchtigte Gelbe Wand im Rücken nur die Hälfte wert? „Für uns ist es definitiv ein Nachteil, ohne Zuschauer zu Hause zu spielen“, sagte Michael Zorc, der Sportdirektor des Fußball-Bundesligisten. Auf die legendäre Südtribüne zu kicken, „löst bei uns was aus, und es löst auch beim Gegner etwas aus. Das fehlt.“
Auch für Julian Nagelsmann ist der Fall klar. „Wenn die Fans nicht da sind, ist der klassische Heimvorteil weg“, sagt der Trainer von
„Wenn wir als Auswärtsteam ohne Publikum spielen, ist das natürlich
einfacher.“
Peter Bosz
Trainer von Bayer Leverkusen
RB Leipzig und erinnert an das enttäuschende 2:2 jüngst gegen Hertha BSC. Sein Augsburger Kollege Heiko Herrlich stellt nach dem mageren 0:0 gegen Paderborn fest: „Unsere Zuschauer fehlen uns überall.“
Nach drei Geister-Spieltagen im Oberhaus mit nur fünf Heimsiegen in 27 Begegnungen (zwölf Auswärtssiege) scheint klar: Corona hat den Heimvorteil gekillt. Zumal zwei dieser Siege gegen ein desolates Schalke 04 errungen wurden und einer auf das Konto von Branchenprimus Bayern München geht. Lag die Heimsieg-Quote in den beiden vergangenen Spielzeiten noch bei jeweils rund 45 Prozent, sind es jetzt nur noch 18,5 Prozent.
„Der Heimvorteil hat Husten“, schreibt die Zeit, und Leverkusens Trainer Peter Bosz meint: „Ich glaube nicht, dass das Zufall ist.“Das Publikum helfe dem Gastgeber „immer“,
ergänzt er, „und wenn wir dann als Auswärtsteam ohne Publikum spielen, ist das natürlich einfacher“. Bosz weiß, wovon er spricht: Bayer gewann in Bremen (4:1) und Mönchengladbach (3:1), verlor aber zu Hause gegen Wolfsburg (1:4).
Auch die Studie einer Forschergruppe um den Wirtschaftsprofessor James Reade von der Uni im englischen Reading scheint die These vom verlorenen Heimvorteil zu stützen. Sein Team wertete die Ergebnisse von 192 Geisterspielen in Europa seit 2002 aus – nur bei 36 Prozent gewannen die Gastgeber, mit Publikum seien es historisch betrachtet 46. In 34 Prozent der Fälle gab es Auswärtssiege, normal seien 26.
Alles klar also? Mitnichten. Die jüngsten Bundesliga-Ergebnisse seien „beeindruckend“, gibt Daniel Memmert zu, „damit war nach der Datenlage nicht zu rechnen“. Der geschäftsführende Leiter des Instituts für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule in Köln sagt allerdings auch: Eine Stichprobe von 27 Spielen sei „eine Datenmenge, bei der Wissenschaftler nicht mal zucken“. Memmert spricht daher von einer „unfassbaren Momentaufnahme“mit „zu vielen Störfaktoren“. Dazu gehören etwa Derbys oder generell die Frage, wer gegen wen spielte. Der Heimvorteil sei außerdem schon in den Jahren vor Corona deutlich kleiner geworden.
Die Rolle des Publikums, sagt Memmert, werde oft überschätzt. Ein Hexenkessel kann zu erhöhter Wachsamkeit führen, aber auch zu mehr Stress und Fehlern. Feindselige Heimfans können Angst einflößen, aber auch pushen. Der Heimvorteil liege eher im vertrauten Umfeld, bei gewohnten Abläufen. „Kinder sind zu Hause auch aggressiver, dominanter“, sagt Memmert, bei Fußballern sei das nicht anders.
Für statistisch relevante Aussagen bräuchte es ohnehin mindestens eine ganze Saison mit Geisterspielen. Das legt auch das Gegenbeispiel 2. Bundesliga nahe: Dort gab es an den ersten drei Spieltagen in 24 Begegnungen zehn Heimsiege. Das entspricht vergleichsweise normalen 41,7 Prozent.