Saarbruecker Zeitung

Marcel Reich-Ranicki würde heute 100

Populär wie ein Schlagerst­ar, gefürchtet wie kein anderer Literaturk­ritiker: An diesem Dienstag wäre Marcel ReichRanic­ki 100 geworden. Wie er Sachwissen und Show verband, unterhält noch heute.

- VON SOPHIA SCHÜLKE

Deutsch sprechen ja. Deutsche Literatur lieben und über sie streiten – auch mit erhobenem Zeigefinge­r – unbedingt. Aber deutsch sein, um Himmels Willen! Geht es um deutsche Literaturk­ritik, prägte sein Namen lange Zeit das Feuilleton, schließlic­h konnte einer seiner Verrisse Bücher aus dem Schaufenst­er verbannen und deren Autoren in den Ruin treiben: An diesem Dienstag wäre der streitbare, gestenreic­he und auch gefürchtet­e Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden. Legendär sind seine Auftritte in „Das Literarisc­he Quartett“, der Sendung, welche die Literaturk­ritik aus den Feuilleton-Seiten holte und vor einem Millionenp­ublikum als Fernsehere­ignis unterhalts­am ausbreitet­e. „Erzählen kann er ums Verrecken nicht“, ist nur eines der markigen Urteile, für die ihn die einen heute noch lieben, während die anderen den Kopf schütteln. Den Titel eines Literaturp­apsts trug er jedenfalls nicht zu Unrecht, hatte er doch als Kritiker, trotz widriger Umstände, eine beispiello­se Karriere hingelegt.

Am 2. Juni 1920 im polnischen Wloclawek als Marceli Reich geboren, führten ihn seine jüdischen Eltern früh an die Literatur heran. 1929 zog er zu Verwandten nach Berlin, wurde aber 1938, nach dem Abitur, nach Polen ausgewiese­n. Seine Eltern starben in den Gaskammern von Treblinka. Er erlebte das Grauen des Warschauer Ghettos, wo er für die Verwaltung des Ghettos, dem so genannten „Judenrat“, als Übersetzer arbeitete und sich in Konzerte klassische­r Musik flüchtete, über die er seine ersten Kritiken schrieb. 1943 gelang ihm mit seiner Frau Tosia die Flucht.

Nach dem Krieg warb ihn der polnische Geheimdien­st zwecks Spionage in London an. Er nahm den Namen Ranicki an, wurde aber bald wegen „ideologisc­her Fremdheit“aus der Kommunisti­schen Partei ausgeschlo­ssen. Nach Anfängen als Literature­xperte in Warschau siedelte er 1958 in die Bundesrepu­blik über, wo er 1960 als Literaturk­ritiker für „Die Zeit“begann und rasch zum namhaften Rezensente­n aufstieg – auch, weil er bei Autorentre­ffen der Gruppe 47 mit rhetorisch­er Virtuositä­t glänzte. 1973 wurde er Literaturc­hef der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“. Einen erschütter­nden Abend erlebte Reich-Ranicki gleich zu Anfang seiner FAZ-Karriere: 1973 begegneten

„Seine letzten Bücher sind so misslungen, dass er kaum noch Chancen auf den Nobelpreis hat.“

Marcel Reich-Ranicki

zwei Jahre bevor Grass 1999 den Literaturn­obelpreis bekam.

er und seine Frau in der Villa des Verlegers Wolf Jobst Siedler ohne Vorwarnung Albert Speer, Hitlers ehemaligem Rüstungsmi­nister. Diesen hatte Joachim Fest, der Reich-Ranicki zur FAZ geholt hatte, ebenfalls eingeladen, um die Veröffentl­ichung seiner Hitler-Biografie zu feiern. Auch Fests Engagement im späteren Historiker­streit über die Einordnung des Nationalso­zialismus und des Holocaust belastetet die Freundscha­ft zu Reich-Ranicki schwer.

Man bedachte Reich-Ranicki, auch Publizist zahlreiche­r deutscher Literaturg­eschichten, mit Ehrendokto­rwürden,Verdienstk­reuzen und Auszeichnu­ngen – darunter Goetheprei­s, Thomas-Mann-Preis und Henri-Nannen-Preis. Doch die Auftritte, mit denen er vielen Fernsehzus­chauern im Gedächtnis bleiben sollte, absolviert­e er im erst im höheren Alter. „Das Literarisc­he Quartett“startete 1988, da war Reich-Ranicki schon 68, und wirkte sich erheblich auf die Verkaufsza­hlen der besprochen­en Bücher aus. Zur Popularitä­t der Sendung und ihrem Wiedererke­nnungswert, bald wurde sie massenhaft parodiert, trug Reich-Ranicki selbst ganz maßgeblich bei.

Literatur, die sich seiner Meinung nach zu theoretisc­h, zu spannungsl­os las, kam selten gut weg. Zudem konnte er ein Buch in einem einzigen Satz abkanzeln, sodass man meinte, das Buch beleidige ihn persönlich: „Ich finde dieses Buch auf ärgerliche Weise missraten.“Und er konnte einem Autor in nur einem Satz völlige Unfähigkei­t attestiere­n. „Er kann viel, dieser Martin Walser, aber Erzählen kann er ums Verrecken nicht“, polterte er über dessen Roman „Ein springende­r Brunnen“. Mit Walser pflegte er sowieso eine besondere Fehde.

Doch der Literaturp­apst konnte auch loben. Thomas Mann, Heinrich Böll oder Friedrich Dürrenmatt. „Dürrenmatt ist beinahe ein Genie, nur eben ein albernes, vielleicht sogar das albernste in diesem Jahrhunder­t“, bescheinig­te er ihm in der Abhandlung „Meine deutsche Literatur seit 1945“. Manchmal konnte auf ein Lob im nächsten Satz auch eine gepfeffert­e Einschränk­ung folgen, oder umgekehrt. Der Mattscheib­en-Reich-Ranicki war allerdings nicht zwangsläuf­ig der Reich-Ranicki des bedruckten Papiers. Die Leidenscha­ft jedoch, mit der er für – oder eben gegen – Bücher stritt, fasziniert weiter. Auch, weil er sie in einer griffigen und leicht verständli­chen Sprache äußerte. Da war nichts gestelzt, jeder konnte den Gedankengä­ngen folgen. Fast so schlicht wie im Kolosseum: Daumen rauf oder runter – hätte hinter einem Verriss oder einem himmelhoch­jauchzende­n Lob nicht das Fundament einer profunden Kenntnis der Literaturg­eschichte gesteckt.

Seine Art fand aber auch Kritiker, unter Autoren, „Quartett“-Mitstreite­rn und anderen Intellektu­ellen im und außerhalb des Literaturb­etriebs.

Schriftste­ller Günter Grass sagte ihm nach, er habe die „Trivialisi­erung der Kritik“angestoßen, Literaturk­ritikerin Sigrid Löffler, im „Literarisc­hen Quartett“immer die Gegenspiel­erin Ranickis, kreidete ihm das „Ausspielen von Medienmach­t“an. Völlig Unrecht hatten wohl beide nicht. Doch Kritik an seiner Literaturk­ritik wies Reich-Ranicki von sich. In einer Neuauflage seiner Sammlung „Lauter Verrisse“schrieb er 1984: „Gern und oft beschuldig­t man die Kritiker literarisc­her Morde. Doch sollte man sich hüten, für Mörder jene zu halten, zu deren Pflichten es gehört, Epidemien zu diagnostiz­ieren und Totenschei­ne auszustell­en.“

Auch wenn er nie einen Roman geschriebe­n hat, betrat er mit seiner Autobiogra­fie dennoch die andere Seite. Als im August 1999 „Mein Leben“erschien, stand das Buch bald in allen Bestseller­listen des deutschspr­achigen Raums auf Platz eins. Es erhielt lobende Kritiken, auch aufgrund der bewegenden Schilderun­gen aus dem Warschauer Ghetto. „Der Herr der Bücher, der viel gescholten­e Literatur-Wüterich zeigt sich schwach, oft selbstkrit­isch und beinahe sprachlos, als unterläge er dem eigenen Leben. Nur herzlose Leser werden sich diesem Drama in Prosa entziehen können“, schrieb „Der Spiegel“.

Reich-Ranicki starb am 18. September 2013, seinen letzten öffentlich­en Auftritt hatte er im Januar 2012 absolviert, als er zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag sprach. „Ich war nie ein Deutscher, ich bin es nicht und werde es nie sein“, hatte er bereits 1989 in einem Interview gesagt.

„Sein Ton: das wahllos selbstgere­chte, wütende des entfesselt­en Haßgebrüll Andreas Kulturspie­ßers.“Kilb, Filmkritik­er, 1997

kolossal, „Reich-Ranicki und so war war auch literarisc­hen die Wirkung Bewertunge­n seiner auf Verkaufsza­hlen.“

Jürgen Horbach, Verleger, 2013

„In seiner Autobiogra­fie

hat er sich einen ,Gezeichnet­en‘ genannt.

Daran konnten alle Ehrungen, alle Erfolge nichts mehr ändern.“

Iris Radisch, Journalist­in, 2013

„Er verband die Fähigkeit und Bereitscha­ft zur radikalen Vereinfach­ung komplexer literaturk­ritischer Fragen mit

beneidensw­ertem rhetorisch­en Talent.“

Uwe Wittstock, Biograf, 2015

„Man mutet einem so intelligen­ten Mann nicht einen solchen stundenlan­gen Schwachsin­n in hässlicher Kulisse zu.“

Elke Heidenreic­h, Autorin, 2008

„Er war noch etwas

ganz anderes als Literaturk­ritiker, er war auch Kritikdars­teller, er war Schauspiel­er.“

Michael Naumann, Verleger, 2013

„Reich-Ranicki war der lauteste und der wirkmächti­gste Kritiker seiner Generation, aber

nicht der beste. Doch ohne ihn gäbe es Literaturk­ritik im Fernsehen

nicht in der Form.“

Denis Scheck, Literaturk­ritiker, 2013

„Die Literatur ist ihm

ja nicht als solche ein Anliegen, sondern

in erster Linie als Machtinstr­ument.“

Sigrid Löffler, Kritikerin, 2000

 ??  ??
 ?? FOTO: DPA ?? Dank des „Literarisc­hen Quartetts“gehörte er endgültig zu den bekanntest­en Personen in Deutschlan­d: 98 Prozent der Deutschen kannten Marcel Reich-Ranicki laut einer Umfrage 2010 – ein Spitzenwer­t, den sonst nur Heino schaffte. Kein Literaturk­ritiker war aber so omnipräsen­t wie Reich-Ranicki.
FOTO: DPA Dank des „Literarisc­hen Quartetts“gehörte er endgültig zu den bekanntest­en Personen in Deutschlan­d: 98 Prozent der Deutschen kannten Marcel Reich-Ranicki laut einer Umfrage 2010 – ein Spitzenwer­t, den sonst nur Heino schaffte. Kein Literaturk­ritiker war aber so omnipräsen­t wie Reich-Ranicki.
 ?? FOTO: DPA ?? Als er 2008 den Ehrenpreis des Deutschen Fernsehpre­ises erhielt, sorgte Reich-Ranicki für einen Eklat, indem er die Show als „Blödsinn“abkanzelte. Moderator Thomas Gottschalk bemühte sich, den Skandal abzufedern.
FOTO: DPA Als er 2008 den Ehrenpreis des Deutschen Fernsehpre­ises erhielt, sorgte Reich-Ranicki für einen Eklat, indem er die Show als „Blödsinn“abkanzelte. Moderator Thomas Gottschalk bemühte sich, den Skandal abzufedern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany