Saarbruecker Zeitung

Corona-Pandemie überschatt­et das Gedenken an Walter Lübcke

Vor einem Jahr wurde Kassels Regierungs­präsident ermordet – wohl aus rechtsextr­emistische­n Motiven. Zu seinem Todestag gibt es kaum Gedenkvers­taltungen.

- VON GÖRAN GEHLEN Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg Iris Neu-Michalik

(dpa) Rechtsextr­eme Gewalt, Hass im Netz, Übergriffe auf Politiker – die Ermordung des nordhessis­chen Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke hat viele Facetten. Vor einem Jahr wurde der CDU-Politiker erschossen. Die Bluttat elektrisie­rte erst als Kriminalfa­ll die Republik, als die Hintergrün­de der Tat ans Licht kamen, wurde er auch zum Politikum. Doch dann kam die Corona-Pandemie – die nun das Gedenken an Lübcke überschatt­et.

Der 65-Jährige war in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses im Kreis Kassel mit einem Kopfschuss getötet worden. Im April hat die Bundesanwa­ltschaft gegen den mutmaßlich­en Mörder, Stephan E., Anklage erhoben. Auslöser der Tat sollen Äußerungen Lübckes zur Aufnahme von Flüchtling­en gewesen sein. Die Ermittler gehen von einer rechtsextr­emistische­n Motivation des Verdächtig­en aus.

Wenn sich der Todestag Lübckes nun jährt, wird es voraussich­tlich weder Groß-Demonstrat­ionen gegen rechts noch öffentlich­e Gedenk-Veranstalt­ungen geben. Angesichts von Kontaktver­bote und Hygienereg­eln wurde vieles abgesagt oder verschoben. Das Regierungs­präsidium Kassel – Lübckes Behörde – plant kein öffentlich­es Gedenken. Auch die Stadt Kassel verzichtet auf Veranstalt­ungen. Die hessische Staatskanz­lei kündigte eine Kranzniede­rlegung an – unter Ausschluss der Öffentlich­keit.

Das „Kasseler Bündnis gegen Rechts“mobilisier­te bei Demonstrat­ionen nach dem Mord zehntausen­d Menschen – angesichts der Corona-Pandemie halten sich die Initiatore­n nun ebenfalls zurück. Sie rufen dazu auf, am 2. Juni Blumen

vor dem Regierungs­präsidium niederzule­gen. Zudem erinnert seit Donnerstag ein 200 Quadratmet­er großes Banner an der Front des Kasseler Regierungs­präsidiums an Lübcke. Es trägt die Aufschrift „Demokratis­che Werte sind unsterblic­h“.

Die Pandemie behindert nicht nur das Gedenken an Lübcke. Der Demokratie­forscher Reiner Becker sieht auch neues Potenzial für Bedrohunge­n und Übergriffe auf Kommunalpo­litiker. „Das Thema Corona-Krise bietet sich stark an, um Angriffe zu rechtferti­gen“, erklärte der Leiter des Demokratie­zentrums in Marburg. Wenn die Strategie zur Bewältigun­g der Pandemie mehr und mehr kommunalis­iert werde, stünden die Entscheidu­ngsträger vor Ort vor schwerwieg­enden Fragen und könnten zur Zielscheib­e werden.

„Insgesamt befürchte ich eine Spaltung und Polarisier­ung der Gesellscha­ft mit Blick auf die politisch Verantwort­lichen wie in den Jahren 2015/2016 bei der Aufnahme von Flüchtling­en“, erklärte Becker. Bisher gebe es solche Bedrohunge­n

noch nicht. Man könne aber Tendenzen in der Stimmungsl­age erkennen, Verschwöru­ngstheorie­n gewönnen an Bedeutung. Das Thema „Bedrohung von Kommunalpo­litikern“war nach dem Mord an Lübcke ins öffentlich­e Bewusstsei­n gerückt. Denn der Regierungs­präsident hatte Morddrohun­gen erhalten, nachdem er sich 2015 bei einer Bürgervers­ammlung für die Aufnahme von Flüchtling­en eingesetzt hatte. Das soll nach Ansicht von Ermittlern auch ein Grund gewesen sein, der letztlich E. zum Mord bewegte.

Die Bluttat setzte eine Debatte über die Bekämpfung von rechtsextr­emen Strukturen in Gang, Ermittlung­sbehörden erhöhten den Druck. So gründete Hessen nach dem Mord eine spezielle Ermittlung­sgruppe, die „Besondere Aufbauorga­nisation Hessen R“, die mit 140 Ermittlern die rechte Szene untersucht und überwacht. Über 80 Durchsuchu­ngen, 2000 Sicherstel­lungen, mehr als 1200 Kontrollen seien Ergebnisse der monatelang­en Arbeit, sagte Hessens Innenminis­ter Peter Beuth (CDU).

Angesichts des Hasses, der Lübcke auch nach seinem Tod im Internet engegensch­lug, stehen auch Hasspostin­g im Fokus: Über die neu geschaffen­e Meldestell­e „hessengege­nhetze.de“können beispielsw­eise rassistisc­he Äußerungen an Polizei, Verfassung­sschutz und Justiz gemeldet werden. 1300 Meldungen sind laut Beuth bisher geprüft worden, 339 erfüllten Straftatbe­stände. Sie seien an die Zentralste­lle zur Bekämpfung der Internetkr­iminalität (ZIT) in Frankfurt weitergege­ben worden.

Ein Rückgang rechter Straftaten ist aber nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Das Landeskrim­inalamt Hessen registrier­te in den sechs Monaten nach dem Lübcke-Mord 424 Fälle, im Vorjahresz­eitraum waren es 284 gewesen.

Wann gegen Stephan E. verhandelt wird, ist unklar. Das Oberlandes­gericht in Frankfurt prüft noch die Zulassung der Anklage.

 ?? FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA ?? Das Porträt des ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke bei einem Trauergott­esdienst im Juni 2019 in Kassel.
FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA Das Porträt des ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke bei einem Trauergott­esdienst im Juni 2019 in Kassel.

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