Bisher nicht einmal ein „Fortschrittchen“
London und Brüssel beginnen die entscheidende Verhandlungsrunde über ihre künftigen Beziehungen.
Kurz vor der vierten Verhandlungsrunde zwischen Brüssel und London, die am Dienstag begann, zog Chefunterhändler Michel Barnier noch einmal alle Register. Um den europäischen Standpunkt unter die Insel-Bevölkerung zu bringen, wählte er die britische Tageszeitung Sunday Times und sagte ihr: „Großbritannien hat einen Schritt zurück gemacht – zwei, drei Schritte zurück gemacht, von seinen ursprünglichen Zusagen“. Dabei bezog er sich auf die politische Erklärung, die zusammen mit dem Brexit-Vertrag unterzeichnet worden war.
Wenn beide Seiten jetzt nicht weiterkämen, so Barnier, dann drohe Ende des Jahres der befürchtete No Deal. Der Grund: Bis zum 30. Juni müsste der britische Premierminister Boris Johnson die EU um Verlängerung der Übergangsphase bitten, die seit dem formellen Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Gemeinschaft am 31. Januar gilt.
Genau dies hat Johnson aber per Gesetz ausgeschlossen. Ohne Meinungsumschwung blieben somit nur noch wenige Monate für eine Einigung, von der bisher nichts zu erkennen ist. Außerdem haben Europäer und Briten vereinbart, Ende dieses Monats eine Bilanz des bisher Erreichten zu ziehen. Sollte es zu wenig sein, könnten die Verhandlungen unter Umständen sogar ausgesetzt und ergebnislos beendet werden.
„Jetzt geht es um alles“, kommentierte am Dienstag der Chef der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament, Jens Geier. „Wir stehen kurz vor dem Moment der Wahrheit: Wird sich die britische Regierung konstruktiv zeigen und in den vier Schlüsselbereichen bewegen?“Danach sieht es nicht aus. Weder bei der Fischerei, über die seit gestern durchgehend bis Freitag verhandelt wird, noch bei allen anderen Themen gab es bisher wenigstens ein „Fortschrittchen“. Zwar bietet Barnier seinem britischen Gegenspieler David Frost einen Handelsvertrag an, der angeblich „einzigartig“ist. Schließlich erklärt sich die Union zu einem Vertrag nach dem Motto „null Zölle, null Quoten und null Dumping“bereit. Dafür soll London aber zusichern, sich keine Wettbewerbsvorteile dadurch zu verschaffen, dass man die EU-Standards unterläuft.
Das stößt auf britischer Seite auf strikte Zurückweisung. Schließlich, so wird an der Themse argumentiert, würde dadurch das Vereinigte Königreich eben die Souveränität über seine Gesetze, die man angestrebt hat, nicht bekommen. Den Europa-Abgeordneten Markus Ferber (CSU), Finanzexperte der Christdemokraten, ärgert darüber hinaus, dass „tagelang über Details des Fischereiabkommens gebrütet“wird, die Finanzstabilität aber keine Rolle spielt. Denn: „Das Vereinige Königreich ist der wichtigste Finanzplatz in Europa. Der Brexit könnte enorme Auswirkungen für die Finanzstabilität haben.“
Inzwischen gibt es Signale aus London, die wenigstens ein bisschen Hoffnung verheißen. Premier Johnson will offenbar im Laufe dieses Monats direkte Gespräche mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen führen. Man erinnert sich: Auch Johnsons Vorgängerin Theresa May erreichte Durchbrüche beim Brexit-Abkommen im direkten Kontakt mit dem damaligen Kommissionschef Jean-Claude Juncker.