Biden wittert Chance im US-Wahlkampf
Der Demokrat Joe Biden will Donald Trump als US-Präsident beerben und fährt in der Corona-Krise einen ganz anderen Kurs als dieser. Hilft ihm das?
(dpa) Wenn Joe Biden je eine Chance hatte, dann jetzt. Die Corona-Pandemie hat US-Präsident Donald Trump mitten im Wahljahr in die größte Krise seiner Amtszeit gestürzt. Die US-Wirtschaft ist eingebrochen, Trump ist damit sein Kern-Wiederwahlargument abhandengekommen. Nun wüten außerdem im ganzen Land Proteste – aus Zorn über den Tod des Afroamerikaners George Floyd, über Polizeigewalt, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Anstatt das Land zu beruhigen und zu einen, setzt Trump auf Eskalation und droht, die Unruhen notfalls mit dem Militär niederzuschlagen. Der Präsident wirkt nervös, und die Verunsicherung in der Bevölkerung ist groß.
Dem früheren US-Vizepräsidenten Biden, der Trump bei der Präsidentschaftswahl im November aus dem Weißen Haus vertreiben will, spielt das in die Hände. In Zeiten der Krise wächst die Sehnsucht nach Dingen wie Stabilität, Verlässlichkeit, Empathie. Alles nicht gerade Trumps Stärke – Biden kann hier eher glänzen. Aber auch er hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Und bis zur Wahl ist noch viel Zeit. Die Lage ist in vielerlei Hinsicht unberechenbar.
Biden steht bereits als Herausforderer von Trump fest. Er ist der einzig verbliebene Bewerber der Demokraten. Am Dienstag hielten, überschattet von den Unruhen im Land, sieben Bundesstaaten und die Hauptstadt Washington Präsidentschaftsvorwahlen ab – für Biden die Gelegenheit, auf einen Schlag viele Delegiertenstimmen für den Nominierungsparteitag der Demokraten im Sommer zu sammeln. Als Präsidentschaftskandidat ist er dort längst gesetzt.
Trump verspottet Biden regelmäßig als senilen alten Mann, der mental nicht fit genug sei für das Präsidentenamt (Biden ist 77, Trump 73). Er hat Biden den gehässigen Spitznamen „Schläfriger Joe“verpasst und lässt keine Gelegenheit aus, sich über seinen Konkurrenten lustig zu machen. Noch vor Monaten lieferte Biden in dieser Hinsicht einige Angriffsfläche: Bei öffentlichen Auftritten und Fernsehdebatten leistete sich der Demokrat immer wieder Patzer, Verhaspler und Aussetzer. Mal verwechselte er Orte, mal seine Frau, mal das Amt, um das er sich bewirbt. Doch die Pandemie legte den Wahlkampf komplett lahm und stoppte alle Auftritte von einem Tag auf den anderen und damit auch Bidens
Serie öffentlicher Peinlichkeiten.
Biden wagt sich angesichts der anhaltenden Pandemie nur vorsichtig wieder vor die Tür. In den vergangenen Tagen hat er sich bei ein paar Terminen erstmals seit Monaten wieder in der Öffentlichkeit blicken lassen. Meist mit Gesichtsmaske und viel Abstand – im Kontrast zu Trump, der sich hartnäckig weigert, in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen.
Schadet Biden sein wahlkampftechnisches Schattendasein oder nützt es ihm eher, weil er selbst weniger falsch machen und stattdessen abwarten kann, wie sich Trump um Kopf und Kragen redet? Trump warf etwa öffentlich die Frage auf, ob man Menschen zur Corona-Behandlung nicht Desinfektionsmittel injizieren könnte. Angesichts der aktuellen Ausschreitungen sorgt der Präsident fast täglich mit martialischen Botschaften für Empörung und drohte gar, das US-Militär einzusetzen, um den Unruhen ein Ende zu setzen. Der Aufschrei ist groß. Biden dagegen sendet auf allen Kanälen staatsmännische Botschaften, ruft das Land auf, in der Gesundheitskrise zusammenzustehen und die tiefen Gräben durch Rassismus gemeinsam zu überwinden. Mit Blick auf die Umtriebigkeit des Präsidenten sagte Biden zuletzt in einem Interview: „Bizarrerweise: Je mehr er da draußen ist, umso mehr schadet er sich.“