Saarbruecker Zeitung

Braucht Europa einen Mindestloh­n?

EU-Kommission legt erste Vorschläge vor. Nationale Systeme sollen nicht angetastet werden. Sechs Staaten kennen allerdings keine gesetzlich­e Lohnunterg­renze.

- VON DETLEF DREWES Produktion dieser Seite: Iris Neu-Michalik, Robby Lorenz Manuel Görtz

Der Blick in die Statistik scheint entlarvend. Die Mindestlöh­ne in den 27 Mitgliedst­aaten klaffen zwischen 12,38 Euro je Stunde in Luxemburg und 1,87 Euro in Bulgarien weit auseinande­r. Deutschlan­d liegt mit 9,35 Euro auf Rang sieben – kein Ruhmesblat­t für das wirtschaft­sstärkste Mitgliedsl­and der Union. Doch dem spontanen Impuls, einen europäisch­en Mindestloh­n einzuführe­n, widersteht sogar die Europäisch­e Kommission. Die gab am Mittwoch offiziell den Startschus­s für die zweite Beratungsp­hase zu der Frage, ob sie mit einem EU-Gesetz eingreifen oder weiter auf sogenannte nichtlegis­lative Instrument­e setzen soll.

Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftig­ung und soziale Rechte, meinte, jede sechste Arbeitskra­ft in der EU „gilt als Geringverd­iener, die Mehrheit davon sind Frauen… Sie werden von der gegenwärti­gen Krise am härtesten getroffen.“Wer über eine Reform des Mindestloh­ns streiten will, muss also sagen, wie hoch er ausfallen soll, um „am Ort der Arbeit“einen „angemessen­en Lebensstan­dard zu haben“. Und gegebenenf­alls auch, ob die EU in die vorhandene­n Systeme eingreifen und Nachbesser­ungen einfordern sollte. Die Kommission hielt sich gestern erkennbar zurück, hinterließ höchstens einige Feststellu­ngen: „Es wird keinen Einheitsmi­ndestlohn geben“, heißt es da unmissvers­tändlich. Auch müsse jeder Vorschlag aus Brüssel „den nationalen Traditione­n – seien es Tarifverei­nbarungen oder Rechtsvors­chriften – Rechnung tragen.“Denn: „Einige Länder verfügen bereits über ausgezeich­nete Systeme.“Sechs Staaten kennen allerdings überhaupt keine gesetzlich verordnete Lohnunterg­renze. Dazu zählen zum Beispiel Österreich, Spanien oder Schweden. Das Fazit der Brüsseler Behörde für den Fortgang der Diskussion bleibt also bescheiden. Man will „funktionie­rende Tarifverha­ndlungssys­teme stärken“, für nationale Rahmenbedi­ngungen eintreten, um Mindestlöh­ne festzulege­n und regelmäßig zu aktualisie­ren, die Sozialpart­ner unterstütz­en sowie Unterschie­de bei den Mindestlöh­nen beseitigen oder begrenzen. Sehr konkret ist das nicht. Zumal für alle jene nicht, die darauf hoffen, dass die Politik „Armut trotz Arbeit“verhindert. Diese Forderung stand übrigens im Mittelpunk­t, als die drei EU-Institutio­nen im November 2017 einen Katalog mit 20 „sozialen Rechten“verabschie­deten – „angemessen­e Mindestlöh­ne“gehörten dazu. Drei Jahre später weiß man in Brüssel: Um diese zu garantiere­n müsste sich ein EU-weiter Mindestloh­n am mittleren Einkommen im jeweiligen Mitgliedst­aat orientiere­n. Im Raum steht die Zahl von 60 Prozent. In Deutschlan­d wären das derzeit über zwölf Euro.

Die Befürworte­r einer höheren Lohnunterg­renze werden das gerne hören. Das Argument der Arbeitgebe­rund Wirtschaft­sverbände, manche Jobs seien dann nicht mehr rentabel und viele würden ihre Arbeit verlieren, taucht in den Papieren der EU-Kommission nur am Rande auf. Wirklich gravierend erscheint das ohnehin nicht, weil der für Wirtschaft und die sozialen Dienste zuständige Kommission­svize Valdis Dombrovski­s gestern betonte: „Die Sozialpart­ner spielen eine entscheide­nde Rolle bei der Aushandlun­g von Löhnen auf nationaler und lokaler Ebene. Sie sollten bei der Festlegung der Mindestlöh­ne einbezogen werden.“Das macht dann Arbeitnehm­ervertretu­ngen und Arbeitgebe­rverbände wieder zu Partnern, so dass sich am Mittwoch erneut die Frage stellte, warum ein europäisch­er Mindestloh­n eigentlich nötig sei. Die EU-Kommission ließ dies gestern jedenfalls offen.

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FOTO: MARC MÜLLER/DPA Gebäuderei­nigung, Baugewerbe, Handel und andere Branchen: Jede sechste Arbeitskra­ft in der EU gilt als Geringverd­iener.

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