EU sollte sich beim Thema Mindestlohn raushalten
Als die EU sich vor drei Jahren eine Charta der sozialen Rechte gab, wollte man vor allem ein politisches Signal setzen. Gegen den aufkommenden Populismus von allen Seiten und auch gegen die eigene depressive Stimmung nach dem Brexit-Votum glaubte man in Brüssel, endlich das humane, soziale Gesicht der Union herauskehren zu sollen. Das war ebenso gut wie richtig. Die Idee eines europäischen Mindestlohns, den es als einheitliche Regelung niemals geben wird, avancierte im Wahlkampf sozusagen zum Symbol für eben die humane und gerechte Gemeinschaft. Alle Seiten stimmten zu, die Kommission begann die Arbeit. Dann kam das Coronavirus.
Die gestern vorgelegte Zwischenbilanz der EU-Kommission wirkt auf seltsame Weise wie aus einer anderen Zeit. Dabei hat sich an dem Anliegen nichts geändert: Die Zahl der Geringverdiener, die – wie sie selbst nun wissen – nicht selten systemrelevante Arbeit verrichten, aber dennoch an der Armutsgrenze leben müssen, ist groß. Trotzdem erscheint der Versuch Brüssels, ihnen beiseite zu treten, unsinnig und außerdem aussichtslos. Das müssen die Tarifpartner im Zusammenspiel mit der Politik schon national lösen. Weil eben nicht allein der Stundenlohn, sondern seine Kaufkraft und die allgemeine Preisentwicklung vor Ort zeigen, ob man von derart niedrigen Einkommen leben kann oder nicht. Brüssel wird Mindestlöhne, deren Satz deutlich unter dem Existenzminimum liegen, anprangern dürfen. Zumal es völlig unstrittig ist, dass ein Einkommen, von dem man nicht leben kann, nicht akzeptabel bleibt.
Dennoch führt die EU-Kommission eine politische Initiative fort, an deren Ende viele wohlklingende Worte, aber kaum echte Veränderung stehen werden. Von allen Argumenten,
die die Sozialpolitiker der EU für eine Fortsetzung der Diskussion vorbringen, bleibt letztlich ein Punkt übrig, der ein europäisches Eingreifen sinnvoll erscheinen lassen könnte. Denn die Gemeinschaft wolle, so hieß es auch gestern wieder, gegen Dumpinglöhne eintreten, die das Lohngefälle in anderen Mitgliedstaaten verändern würden. Das klingt zwar gut, geht an der Wirklichkeit aber weit vorbei. Denn nicht die Arbeitnehmer in den exportorientierten Branchen werden zu gering bezahlt. Es sind die Servicekräfte in der Gastronomie, in der Logistik, in der Produktion oder bei Dienstleistern wie Friseuren oder Taxifahrern. Sie gehören jenen Betrieben an, die von der Krise besonders betroffen sind, deren Inhaber eine Mindestlohnanhebung jedoch kaum verkraften könnten – so angebracht diese auch sein mag. Den Mittelweg zu finden, darf aber nur Aufgabe der national zuständigen Partner bleiben, weil sie die Lage vor Ort einschätzen können. Die EU wird dabei bestenfalls als Rückhalt, aber ganz sicher nicht als Akteur gebraucht.
Diese Erkenntnis ist allerdings kein Freibrief, sich von dem ursprünglichen Anliegen des Kampfes gegen die Armut zu verabschieden. Den Menschen einen EU-weiten, vielleicht sogar noch einheitlichen Mindestlohn zu suggerieren, führt jedoch nicht weiter. Vor allem nicht in der schwersten Wirtschaftskrise, die diese Gemeinschaft jemals verkraften musste.