Wenn Paris der Jugend alle Träume stiehlt
Marion Messina seziert in ihrem bemerkenswerten Debüt ,,Fehlstart“das Scheitern einer 19-Jährigen, die vor der Langeweile flieht.
Als die 19-jährige Aurélie zum Studieren in Paris ankommt, glaubt sie noch, dass das wahre Leben dort zuhause ist. Dass sich dort also ganz andere Kapriolen schlagen lassen als in ihrer provinziellen Heimatstadt Grenoble, derer Aurélie nur noch überdrüssig war. „Sie wollte die Orientierung verlieren. In Grenoble hätte sie ihren Weg mit geschlossenen Augen gefunden.“
Marion Messinas bemerkenswertes, zur Zeit der großen Finanzkrise 2008/09 spielendes Romandebüt ,,Fehlstart“zeichnet die Desillusionierung einer jungen Französin nach, die partout keine Lust auf ein langweiliges Leben hat und auf Paris als Rettungsanker hofft. Schon im ersten Teil des Romans, in dem sie Aurélies erstes Studienjahr in Grenoble nachzeichnet, gelingt es Messina, das soziale Dreieck (Elternhaus, Universität, Freund), in dem sich ihre junge Protagonistin bewegt, in treffsicheren Sätzen einzufangen: Aurélies Elternhaus ist ein rückständiger Hort der Gewöhnlichkeit und Unbeholfenheit, während ihr ohne großen Esprit begonnenes Jurastudium das Gegenteil von Aufbruch markiert: „In dem Lebensabschnitt, den man ihr immer als die schönsten Jahre ausgemalt hatte, blieb einfach die Zeit stehen.“Eher im Vorbeigehen rechnet Messina (30) in ihrem Roman rigoros mit dem französischen Bildungssystem ab: ,,Die Nutzlosigkeit des an der Universität vermittelten Wissens war ein Tabu.“Einzig ihr kolumbianischer Freund Alejandro vermag Aurélies faden Alltag aufzumischen. Gerade weil er keinerlei Kleinbürgerträume von einer Feierabendbehaglichkeit im adretten Reihenhaus hegt, sondern den unangepassten, eher schnoddrigen Individualisten gibt, wird Alejandro zum Zentrum ihres kleinen Universums: „Sie hätte sich von der Liebe auffressen lassen, hätte alles getan, um jeden Augenblick mit ihm zu verbringen.“
Aber natürlich hält solch eine Liebe, die für alles andere entschädigen soll, nicht. Doch auch schon bevor Alejandro dann nach Lyon weiterzieht und Aurélie nach Paris entflieht, weiß die 19-Jährige nicht, weshalb sie nie das Gefühl verliert, ,,es trotz allem guten Willen nie zu etwas zu bringen“. Schon deshalb nicht, weil ihr unklar ist, was dieses ,,etwas“überhaupt sein könnte. Für
Marion Messina repräsentiert Aurélie eine Generation, die „keine echten Schwierigkeiten und nicht die geringste Perspektive“auf wirkliche Befreiung aus ihrer vorgezeichneten, mäßig aufregenden Lebensbahn hat. Was sie eher erwartet, heißt es in der Mitte des Romans einmal, „war ein Nullpunkt des Leidens, die B-Seite des Lebens“.
In Frankreich hat man ihr 2017 erschienenes Debüt vorschnell sogleich mit den Romanen von Michel Houellebecq oder Virginie Despentes verglichen. Sicher, auch Messina pflegt einen Stil wohlkalkulierter literarischer Bodychecks in Form rotziger Zuspitzungen oder unverblümter Dialoge. Auch thematisiert ihr Roman vor allem im zweiten Teil Sexualität als Ausdruck gesellschaftlicher Entfremdung. Eigentlich aber hat Messina, sieht man von einer gewissen Drastik im Schildern sexueller Verrichtungen ab, nicht viel gemein mit Houellebecq oder Despentes. Ihr fehlt allerdings deren Beobachterkälte. Und sie legt auch nicht in selbstherrlichen Kompositionsgesten ein Netz aus skurrilen Nebenhandlungen über den Plot ihres Romans.
Messina belässt es vielmehr – dies aber durchaus mit großem Talent – beim stückweisen Sezieren von Aurélies
Scheitern in der Hauptstadt, in der sie sich zunächst als Hostess verdingt, wobei ihr als nächtliche Bleibe lange Zeit nur der Schlafsaal einer Jugendherberge bleibt. Die Häme, mit der der Roman die Entseeltheit der neoliberal abgerichteten Welt von heute demaskiert, gehört dabei zu dessen Höhepunkten. Etwa wenn es über Aurélies Job als Empfangsdame heißt: „Die heuchlerischte ihrer neuen beruflichen Verpflichtungen bestand darin, immer einen beschäftigten Eindruck zu machen. Die Hostessen hatten keine Aufgaben, aber die Kunden sahen nicht gern, dass jemand fürs Nichtstun bezahlt wurde. Sie mussten also auf den Computer ohne Internetverbindung starren und mit konzentriertem Gesicht endlos Solitär spielen“oder „die Zeitansage anrufen, um am Telefon gesehen zu werden“.
Die Pariser Angestelltenwelt von heute beschreibt der Roman als ein erbarmenswertes Leben im Hamsterrad. Messinas Paris ist längst kein Segen mehr, sondern nurmehr ein Fluch. Ein Hort der Degeneration: „Die Suche nach der Anerkennung von hunderten virtuellen Freunden, die fünfunddreißigjährigen Partygänger, die in den Bars Abiturientinnen anbaggerten, die endlose Studienzeit und die Jugend bis zum Tod – das war alles zum Verzweifeln.“Paris aber, dieses Bild zeichnet der Roman Mal um Mal, zehrt von seinem ewigen Nimbus als Sehnsuchtsort und vermag so immer wieder aufs Neue, ein Millionenheer an Überlebenskünstlern zu verschleißen. Es diktiert die Lebensbedingungen, sodass zum Ausfahren von Fastfood eben ein abgeschlossenes Studium vorausgesetzt wird. Der hauptstädtische Immobilienmarkt wird als „die einzige völlig deregulierte, ja geradezu anarchistische Zone in Frankreich“skizziert. Wobei sich hinter vielen der hoffnungslos überteuerten Apartments für Messina nur sterile sexuelle Beziehungen abspielen, in denen es in erster Linie darum geht, „einen Körper zu penetrieren“.
Valérie wird beim Finanzchef eines Unternehmens – einem anständigen, aber langweiligen Typen – unterschlüpfen, ihm eine Weile Liebe vorgaukeln und ihn ihrer großen Liebe Alejandro wegen verlassen. Ob die unerwartete Neuauflage ihrer Zweisamkeit länger halten wird? Messinas Debüt beantwortet es, ohne dabei seine famose Abrechnung mit der vermeintlichen Stadt der Liebe aus dem Blick zu verlieren.
Marion Messina: „Fehlstart“. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Hanser, 167 Seiten, 18 Euro.