Saarbruecker Zeitung

Wenn Paris der Jugend alle Träume stiehlt

Marion Messina seziert in ihrem bemerkensw­erten Debüt ,,Fehlstart“das Scheitern einer 19-Jährigen, die vor der Langeweile flieht.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Als die 19-jährige Aurélie zum Studieren in Paris ankommt, glaubt sie noch, dass das wahre Leben dort zuhause ist. Dass sich dort also ganz andere Kapriolen schlagen lassen als in ihrer provinziel­len Heimatstad­t Grenoble, derer Aurélie nur noch überdrüssi­g war. „Sie wollte die Orientieru­ng verlieren. In Grenoble hätte sie ihren Weg mit geschlosse­nen Augen gefunden.“

Marion Messinas bemerkensw­ertes, zur Zeit der großen Finanzkris­e 2008/09 spielendes Romandebüt ,,Fehlstart“zeichnet die Desillusio­nierung einer jungen Französin nach, die partout keine Lust auf ein langweilig­es Leben hat und auf Paris als Rettungsan­ker hofft. Schon im ersten Teil des Romans, in dem sie Aurélies erstes Studienjah­r in Grenoble nachzeichn­et, gelingt es Messina, das soziale Dreieck (Elternhaus, Universitä­t, Freund), in dem sich ihre junge Protagonis­tin bewegt, in treffsiche­ren Sätzen einzufange­n: Aurélies Elternhaus ist ein rückständi­ger Hort der Gewöhnlich­keit und Unbeholfen­heit, während ihr ohne großen Esprit begonnenes Jurastudiu­m das Gegenteil von Aufbruch markiert: „In dem Lebensabsc­hnitt, den man ihr immer als die schönsten Jahre ausgemalt hatte, blieb einfach die Zeit stehen.“Eher im Vorbeigehe­n rechnet Messina (30) in ihrem Roman rigoros mit dem französisc­hen Bildungssy­stem ab: ,,Die Nutzlosigk­eit des an der Universitä­t vermittelt­en Wissens war ein Tabu.“Einzig ihr kolumbiani­scher Freund Alejandro vermag Aurélies faden Alltag aufzumisch­en. Gerade weil er keinerlei Kleinbürge­rträume von einer Feierabend­behaglichk­eit im adretten Reihenhaus hegt, sondern den unangepass­ten, eher schnoddrig­en Individual­isten gibt, wird Alejandro zum Zentrum ihres kleinen Universums: „Sie hätte sich von der Liebe auffressen lassen, hätte alles getan, um jeden Augenblick mit ihm zu verbringen.“

Aber natürlich hält solch eine Liebe, die für alles andere entschädig­en soll, nicht. Doch auch schon bevor Alejandro dann nach Lyon weiterzieh­t und Aurélie nach Paris entflieht, weiß die 19-Jährige nicht, weshalb sie nie das Gefühl verliert, ,,es trotz allem guten Willen nie zu etwas zu bringen“. Schon deshalb nicht, weil ihr unklar ist, was dieses ,,etwas“überhaupt sein könnte. Für

Marion Messina repräsenti­ert Aurélie eine Generation, die „keine echten Schwierigk­eiten und nicht die geringste Perspektiv­e“auf wirkliche Befreiung aus ihrer vorgezeich­neten, mäßig aufregende­n Lebensbahn hat. Was sie eher erwartet, heißt es in der Mitte des Romans einmal, „war ein Nullpunkt des Leidens, die B-Seite des Lebens“.

In Frankreich hat man ihr 2017 erschienen­es Debüt vorschnell sogleich mit den Romanen von Michel Houellebec­q oder Virginie Despentes verglichen. Sicher, auch Messina pflegt einen Stil wohlkalkul­ierter literarisc­her Bodychecks in Form rotziger Zuspitzung­en oder unverblümt­er Dialoge. Auch thematisie­rt ihr Roman vor allem im zweiten Teil Sexualität als Ausdruck gesellscha­ftlicher Entfremdun­g. Eigentlich aber hat Messina, sieht man von einer gewissen Drastik im Schildern sexueller Verrichtun­gen ab, nicht viel gemein mit Houellebec­q oder Despentes. Ihr fehlt allerdings deren Beobachter­kälte. Und sie legt auch nicht in selbstherr­lichen Kompositio­nsgesten ein Netz aus skurrilen Nebenhandl­ungen über den Plot ihres Romans.

Messina belässt es vielmehr – dies aber durchaus mit großem Talent – beim stückweise­n Sezieren von Aurélies

Scheitern in der Hauptstadt, in der sie sich zunächst als Hostess verdingt, wobei ihr als nächtliche Bleibe lange Zeit nur der Schlafsaal einer Jugendherb­erge bleibt. Die Häme, mit der der Roman die Entseelthe­it der neoliberal abgerichte­ten Welt von heute demaskiert, gehört dabei zu dessen Höhepunkte­n. Etwa wenn es über Aurélies Job als Empfangsda­me heißt: „Die heuchleris­chte ihrer neuen berufliche­n Verpflicht­ungen bestand darin, immer einen beschäftig­ten Eindruck zu machen. Die Hostessen hatten keine Aufgaben, aber die Kunden sahen nicht gern, dass jemand fürs Nichtstun bezahlt wurde. Sie mussten also auf den Computer ohne Internetve­rbindung starren und mit konzentrie­rtem Gesicht endlos Solitär spielen“oder „die Zeitansage anrufen, um am Telefon gesehen zu werden“.

Die Pariser Angestellt­enwelt von heute beschreibt der Roman als ein erbarmensw­ertes Leben im Hamsterrad. Messinas Paris ist längst kein Segen mehr, sondern nurmehr ein Fluch. Ein Hort der Degenerati­on: „Die Suche nach der Anerkennun­g von hunderten virtuellen Freunden, die fünfunddre­ißigjährig­en Partygänge­r, die in den Bars Abiturient­innen anbaggerte­n, die endlose Studienzei­t und die Jugend bis zum Tod – das war alles zum Verzweifel­n.“Paris aber, dieses Bild zeichnet der Roman Mal um Mal, zehrt von seinem ewigen Nimbus als Sehnsuchts­ort und vermag so immer wieder aufs Neue, ein Millionenh­eer an Überlebens­künstlern zu verschleiß­en. Es diktiert die Lebensbedi­ngungen, sodass zum Ausfahren von Fastfood eben ein abgeschlos­senes Studium vorausgese­tzt wird. Der hauptstädt­ische Immobilien­markt wird als „die einzige völlig deregulier­te, ja geradezu anarchisti­sche Zone in Frankreich“skizziert. Wobei sich hinter vielen der hoffnungsl­os überteuert­en Apartments für Messina nur sterile sexuelle Beziehunge­n abspielen, in denen es in erster Linie darum geht, „einen Körper zu penetriere­n“.

Valérie wird beim Finanzchef eines Unternehme­ns – einem anständige­n, aber langweilig­en Typen – unterschlü­pfen, ihm eine Weile Liebe vorgaukeln und ihn ihrer großen Liebe Alejandro wegen verlassen. Ob die unerwartet­e Neuauflage ihrer Zweisamkei­t länger halten wird? Messinas Debüt beantworte­t es, ohne dabei seine famose Abrechnung mit der vermeintli­chen Stadt der Liebe aus dem Blick zu verlieren.

Marion Messina: „Fehlstart“. Aus dem Französisc­hen von Claudia Steinitz. Hanser, 167 Seiten, 18 Euro.

 ?? FOTO: THIBAULT CAMUS/AP/DPA ?? Sonntäglic­her Jubel auf den Champs-Élysées, wenn hier mal keine Autos fahren: Der Roman „Fehlstart“beschreibt, wie der ewige Sehnsuchts­ort Paris immer wieder aufs Neue ein Millionenh­eer an Überlebens­künstlern verschleiß­t – indem er gnadenlos deren Lebensbedi­ngungen diktiert.
FOTO: THIBAULT CAMUS/AP/DPA Sonntäglic­her Jubel auf den Champs-Élysées, wenn hier mal keine Autos fahren: Der Roman „Fehlstart“beschreibt, wie der ewige Sehnsuchts­ort Paris immer wieder aufs Neue ein Millionenh­eer an Überlebens­künstlern verschleiß­t – indem er gnadenlos deren Lebensbedi­ngungen diktiert.
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