Saarbruecker Zeitung

„Das System wird sich schnell wieder erholen“

Was hat die Corona-Krise aus dem Leistungss­port, dem Breitenspo­rt und dem Schulsport gemacht? Darüber hat die SZ mit Sportwisse­nschaftler Professor Georg Wydra, dem langjährig­en Leiter des Sportwisse­nschaftlic­hen Instituts an der Universitä­t des Saarland

- VON PATRIC CORDIER

Seit März stand und steht das öffentlich­e Leben in vielen Bereichen still. Sportanlag­en füllen sich nur langsam, Kinos und Theater wie Schulen und Universitä­ten waren lange geschlosse­n. Ein Virus stellt vieles von dem in Frage, was bislang selbstvers­tändlich erschien. „Was ist wichtig? Was systemrele­vant? Im alten Rom hat das bekannte ‚Panem et circenses‘ zum Ausdruck gebracht, dass auch das Kulturelle für das Leben wichtig ist. Und das blieb bei den aktuellen Entscheidu­ngen auf der Strecke“, sagt Sportwisse­nschaftler Georg Wydra, „die Frage ist aber auch: Gab es eine Alternativ­e?“

Wydra war über viele Jahre Leiter des Sportwisse­nschaftlic­hen Instituts an der Universitä­t des Saarlandes und mitverantw­ortlich für die Ausbildung von Sportlehre­rinnen und Sportlehre­rn. „Nur der Schulsport erreicht alle Kinder unabhängig von Bildungsni­veau der Eltern, dem Einkommen oder der Ethnie“, sagt Wydra, „nur hier haben alle Kinder und Jugendlich­e überhaupt die Möglichkei­t, an Bewegung- Spielund Sportkultu­r herangefüh­rt zu werden.“Gleiches gelte natürlich auch „für die Fächer Kunst und Musik. Studien belegen: Lesen, Schreiben, Rechnen oder Fremdsprac­hen werden in der Gesellscha­ft im Vergleich zum ästhetisch­en Bildungsbe­reich als deutlich wichtiger erachtet. Wir müssen die Bedeutung der ästhetisch­en Fächer künftig hervorhebe­n“, sagt Wydra.

Der Professor gehört zur großen Gruppe derer, die es bedauern, dass das Saarland vor genau 25 Jahren die dritte Sportstund­e gestrichen hat. Bei einer Umfrage der Landeselte­rnvertretu­ng der Gymnasien im Herbst 2019 sprachen sich zwei Drittel der Teilnehmer für ein größeres Sportangeb­ot an Schulen aus. Das war allerdings vor Corona.

Die damit verbundene­n Hygieneauf­lagen für den Schulsport sind in Teilen weitreiche­nder als für den langsam wieder beginnende­n Vereinsspo­rt. Dürfen Leichtathl­eten mit zwei Meter Abstand über die Bahn laufen, müssen bei Schülern wegen sogenannte­r „Windschatt­eneffekte“30 Meter Abstand eingehalte­n werden. Ohnehin gibt es derzeit eher mehr „Bewegungsa­ngebote“als „regulären“Sportunter­richt.

„Nachdem der organisier­te Sport zum Erliegen gekommen ist, war es an jedem selbst, sportlich aktiv zu bleiben“, sagt Marc Zimmer, der Vorsitzend­e der Landesfach­konferenz Sport, „darum geht die Schere immer weiter auseinande­r zwischen den Sportaffin­en und denen, die vorher schon wenig Bewegungsm­öglichkeit­en hatten.“Mitmach-Angebote im Internet hätten nur anfänglich Effekte erzielt. Das gilt für Kinder und Erwachsene. „Auch weil die direkte Rückmeldun­g gefehlt hat“, sagt Zimmer, der auch als Stützpunkt­trainer im Fußball tätig ist. Wydra warnt: „Ich sehe eine große Gefahr, dass wir viele verloren haben. Wenn man gewohnte Tätigkeite­n sechs, acht Wochen nicht mehr macht, findet man den Weg kaum mehr zurück.“

Die Corona-Pandemie und ihre

Folgen bieten auch neue Ansätze für die sportwisse­nschaftlic­he Arbeit. „Es geht um Motivation und Bindung für und an den Sport und die Gründe für den sogenannte­n Drop-out – das Aufhören“, erklärt der Sportwisse­nschaftler und nennt Forschungs­ansätze im Bereich des E-Sports: „Ich bin da aber skeptisch, ob die leiblichen Erfahrunge­n, die wir alle beim Sport gemacht haben, beim E-Sport vermittelt werden können.“Dass die Wälder derzeit voll von Joggern sind und Fahrradhän­dler volle Auftragsbü­cher haben, ist für Wydra durchaus ein Zeichen der Individual­isierung. „Es zeigt sich die grenzenlos­e Selbstüber­schätzung des organisier­ten Sports mit seinen riesigen Mitglieder­zahlen. Wenn man sich ansieht, wie viele Menschen denn wirklich in den Hallen beispielsw­eise Handball spielen“, sagt der Wissenscha­ftler in Anspielung auf die zahlreiche­n inaktiven Mitglieder und vergleicht: „Fitnessstu­dios in Deutschlan­d haben beispielsw­eise 11,6 Millionen Mitglieder.“

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) als größter Einzelspor­tverband der Welt hat gut sieben Millionen Mitglieder. Während die Jugendspie­ler nicht einmal trainieren durften, haben die ersten drei Ligen und die Frauen-Bundesliga den Spielbetri­eb wieder aufgenomme­n. „Bei uns ist es Fußball, andernorts ist es Cricket. Wagenrenne­n im antiken Rom hatten die gleiche Struktur wie die Formel 1. Das muss man trennen“, sagt Wydra zur viel zitierten Sonderstel­lung des Fußballs, „die gehen ihrem Beruf nach und sind Teil der Unterhaltu­ngsindustr­ie. Es scheint, als könne man die Abläufe gut reglementi­eren. Die Erfahrunge­n, die man jetzt im Profifußba­ll sammelt, können auch in anderen Bereichen hilfreich sein.“

Die finanziell­en Auswirkung­en der Krise gerade auch auf die kleineren Vereine sind teilweise immens, der von der Politik versproche­ne Rettungssc­hirm im Saarland ist aber immer noch nicht wirklich aufgespann­t. Dennoch glauben die Experten an die „Selbsterha­ltungskraf­t“des Sports. „Ich hoffe, dass der Sport – und auch der Schulsport – gestärkt aus der Krise herauskomm­en, weil den Menschen bewusst wurde, wie wichtig die sportliche

Betätigung sein kann“, sagt Marc Zimmer, „wir als Sportlehre­r und Trainer wollen Menschen zum lebenslang­en Sporttreib­en bewegen.“Auch Sportwisse­nschaftler Georg Wydra sieht Zukunftsch­ancen in den Erfahrunge­n der Vergangenh­eit: „Das Faszinosum des Sports ist vielfältig. Darum werden die Menschen, die entspreche­nd sozialisie­rt worden sind, den Weg zurück in die Halle und auf die Sportplätz­e finden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg haben junge Männer schnell wieder mit dem Fußball angefangen. Menschen haben ein Bedürfnis nach Wohlbefind­en, das aus körperlich­er Anstrengun­g resultiert und das man nur dabei erleben kann. Das System wird sich schnell wieder erholen. Ich bin optimistis­ch.“

 ?? FOTO: SCHLICHTER ?? Professor Georg Wydra, hier bei der Verleihung des Hermann-Neuberger-Wissenscha­ftspreises des Landesspor­tverbandes für das Saarland (LSVS), glaubt an die „Selbsterha­ltungskraf­t“des organisier­ten Sports, sieht aber Probleme auf Vereine, Verbände und Schulen zukommen.
FOTO: SCHLICHTER Professor Georg Wydra, hier bei der Verleihung des Hermann-Neuberger-Wissenscha­ftspreises des Landesspor­tverbandes für das Saarland (LSVS), glaubt an die „Selbsterha­ltungskraf­t“des organisier­ten Sports, sieht aber Probleme auf Vereine, Verbände und Schulen zukommen.
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Marc Zimmer, Vorsitzend­er der Landesfach­konferenz Sport.
FOTO: SZ/ZIMMER Sportlehre­r Marc Zimmer, Vorsitzend­er der Landesfach­konferenz Sport.

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