„Das System wird sich schnell wieder erholen“
Was hat die Corona-Krise aus dem Leistungssport, dem Breitensport und dem Schulsport gemacht? Darüber hat die SZ mit Sportwissenschaftler Professor Georg Wydra, dem langjährigen Leiter des Sportwissenschaftlichen Instituts an der Universität des Saarland
Seit März stand und steht das öffentliche Leben in vielen Bereichen still. Sportanlagen füllen sich nur langsam, Kinos und Theater wie Schulen und Universitäten waren lange geschlossen. Ein Virus stellt vieles von dem in Frage, was bislang selbstverständlich erschien. „Was ist wichtig? Was systemrelevant? Im alten Rom hat das bekannte ‚Panem et circenses‘ zum Ausdruck gebracht, dass auch das Kulturelle für das Leben wichtig ist. Und das blieb bei den aktuellen Entscheidungen auf der Strecke“, sagt Sportwissenschaftler Georg Wydra, „die Frage ist aber auch: Gab es eine Alternative?“
Wydra war über viele Jahre Leiter des Sportwissenschaftlichen Instituts an der Universität des Saarlandes und mitverantwortlich für die Ausbildung von Sportlehrerinnen und Sportlehrern. „Nur der Schulsport erreicht alle Kinder unabhängig von Bildungsniveau der Eltern, dem Einkommen oder der Ethnie“, sagt Wydra, „nur hier haben alle Kinder und Jugendliche überhaupt die Möglichkeit, an Bewegung- Spielund Sportkultur herangeführt zu werden.“Gleiches gelte natürlich auch „für die Fächer Kunst und Musik. Studien belegen: Lesen, Schreiben, Rechnen oder Fremdsprachen werden in der Gesellschaft im Vergleich zum ästhetischen Bildungsbereich als deutlich wichtiger erachtet. Wir müssen die Bedeutung der ästhetischen Fächer künftig hervorheben“, sagt Wydra.
Der Professor gehört zur großen Gruppe derer, die es bedauern, dass das Saarland vor genau 25 Jahren die dritte Sportstunde gestrichen hat. Bei einer Umfrage der Landeselternvertretung der Gymnasien im Herbst 2019 sprachen sich zwei Drittel der Teilnehmer für ein größeres Sportangebot an Schulen aus. Das war allerdings vor Corona.
Die damit verbundenen Hygieneauflagen für den Schulsport sind in Teilen weitreichender als für den langsam wieder beginnenden Vereinssport. Dürfen Leichtathleten mit zwei Meter Abstand über die Bahn laufen, müssen bei Schülern wegen sogenannter „Windschatteneffekte“30 Meter Abstand eingehalten werden. Ohnehin gibt es derzeit eher mehr „Bewegungsangebote“als „regulären“Sportunterricht.
„Nachdem der organisierte Sport zum Erliegen gekommen ist, war es an jedem selbst, sportlich aktiv zu bleiben“, sagt Marc Zimmer, der Vorsitzende der Landesfachkonferenz Sport, „darum geht die Schere immer weiter auseinander zwischen den Sportaffinen und denen, die vorher schon wenig Bewegungsmöglichkeiten hatten.“Mitmach-Angebote im Internet hätten nur anfänglich Effekte erzielt. Das gilt für Kinder und Erwachsene. „Auch weil die direkte Rückmeldung gefehlt hat“, sagt Zimmer, der auch als Stützpunkttrainer im Fußball tätig ist. Wydra warnt: „Ich sehe eine große Gefahr, dass wir viele verloren haben. Wenn man gewohnte Tätigkeiten sechs, acht Wochen nicht mehr macht, findet man den Weg kaum mehr zurück.“
Die Corona-Pandemie und ihre
Folgen bieten auch neue Ansätze für die sportwissenschaftliche Arbeit. „Es geht um Motivation und Bindung für und an den Sport und die Gründe für den sogenannten Drop-out – das Aufhören“, erklärt der Sportwissenschaftler und nennt Forschungsansätze im Bereich des E-Sports: „Ich bin da aber skeptisch, ob die leiblichen Erfahrungen, die wir alle beim Sport gemacht haben, beim E-Sport vermittelt werden können.“Dass die Wälder derzeit voll von Joggern sind und Fahrradhändler volle Auftragsbücher haben, ist für Wydra durchaus ein Zeichen der Individualisierung. „Es zeigt sich die grenzenlose Selbstüberschätzung des organisierten Sports mit seinen riesigen Mitgliederzahlen. Wenn man sich ansieht, wie viele Menschen denn wirklich in den Hallen beispielsweise Handball spielen“, sagt der Wissenschaftler in Anspielung auf die zahlreichen inaktiven Mitglieder und vergleicht: „Fitnessstudios in Deutschland haben beispielsweise 11,6 Millionen Mitglieder.“
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) als größter Einzelsportverband der Welt hat gut sieben Millionen Mitglieder. Während die Jugendspieler nicht einmal trainieren durften, haben die ersten drei Ligen und die Frauen-Bundesliga den Spielbetrieb wieder aufgenommen. „Bei uns ist es Fußball, andernorts ist es Cricket. Wagenrennen im antiken Rom hatten die gleiche Struktur wie die Formel 1. Das muss man trennen“, sagt Wydra zur viel zitierten Sonderstellung des Fußballs, „die gehen ihrem Beruf nach und sind Teil der Unterhaltungsindustrie. Es scheint, als könne man die Abläufe gut reglementieren. Die Erfahrungen, die man jetzt im Profifußball sammelt, können auch in anderen Bereichen hilfreich sein.“
Die finanziellen Auswirkungen der Krise gerade auch auf die kleineren Vereine sind teilweise immens, der von der Politik versprochene Rettungsschirm im Saarland ist aber immer noch nicht wirklich aufgespannt. Dennoch glauben die Experten an die „Selbsterhaltungskraft“des Sports. „Ich hoffe, dass der Sport – und auch der Schulsport – gestärkt aus der Krise herauskommen, weil den Menschen bewusst wurde, wie wichtig die sportliche
Betätigung sein kann“, sagt Marc Zimmer, „wir als Sportlehrer und Trainer wollen Menschen zum lebenslangen Sporttreiben bewegen.“Auch Sportwissenschaftler Georg Wydra sieht Zukunftschancen in den Erfahrungen der Vergangenheit: „Das Faszinosum des Sports ist vielfältig. Darum werden die Menschen, die entsprechend sozialisiert worden sind, den Weg zurück in die Halle und auf die Sportplätze finden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg haben junge Männer schnell wieder mit dem Fußball angefangen. Menschen haben ein Bedürfnis nach Wohlbefinden, das aus körperlicher Anstrengung resultiert und das man nur dabei erleben kann. Das System wird sich schnell wieder erholen. Ich bin optimistisch.“