Die Beständige und die Ehrgeizige in einem Boot
Angela Merkel und Ursula von der Leyen müssen die EU nun gemeinsam führen.
Der erste Tag der deutschen EU-Ratspräsidentschaft verlief sang- und klanglos. Erst am heutigen Donnerstag treten die beiden Frauen gemeinsam in Berlin vor die Kameras, die aller europäischen Unterschiedlichkeit zum Trotz die Gemeinschaft in den kommenden sechs Monaten sanieren und heilen müssen: Bundeskanzlerin Angela Merkel (65) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (61) – langjährige Weggefährtinnen, enge Vertraute, aber „sicherlich nicht beste Freundinnen“, wie es in Brüssel heißt.
Auf der einen Seite steht die inzwischen dienstälteste Regierungschefin aus Berlin, auf der anderen die mit Brüssel so eng verwobene Kommissionspräsidentin, die nicht vergessen hat, dass es nicht Merkel (sondern Frankreichs Präsident Emmanuel Macron) war, die sie nach den Wirren der Europawahl ins Rennen geschickt hat – und die nun ein ums andere Mal bemüht scheint, ihrer ehrgeizigen ehemaligen Verteidigungsministerin nicht zu viel Spielraum zu lassen. „Die Kanzlerin weiß, dass ich losmarschiere, wenn ich eine Aufgabe habe“, zitierte das Magazin Der Spiegel in diesen Tagen von der Leyen. Gleich mehrfach stoppten denn auch Merkel und andere Regierungschefs die Ungeduldige in Brüssel – beispielsweise als es um die Veröffentlichung eines Entwurfes für den Wiederaufbau-Fonds oder die Industrie-Strategie ging.
Unmittelbar nach der Wahl der neuen Kommission im Dezember des vorigen Jahres hatte von der Leyen mit großem Ehrgeiz und Enthusiasmus ihr Team einen politischen Vorschlag nach dem anderen „abfeuern“lassen: erst zum Green Deal, dann zur Digitalisierung, zum siebenjährigen Haushaltsrahmen, zur Artenvielfalt und so weiter. Das Virus entriss der EU-Kommission die Regie. Von der Leyen wirkte anfangs hilflos und ohne Konzeption, wie sie die Initiative wieder zurückgewinnen sollte. Es war Merkel, die die Fäden an sich zog und die – gemeinsam mit Macron – am 18. Mai einen ersten Plan für einen Wiederaufbau-Fonds über zunächst 500 Milliarden Euro präsentierte.
Damit punktete die Kanzlerin vor allem bei der wichtigen Frage der europäischen Solidarität. Von der
Leyen erhöhte den Einsatz auf 750 Milliarden Euro. Zusammen mit den rund 1,1 Billionen Euro, die als Haushaltsrahmen für die kommenden sieben Jahre vorgeschlagen wurden, könnte die Kommission damit fast doppelt so viel wie bisher ausgeben. Es würde von der Leyens Position massiv aufwerten. Doch die Staats- und Regierungschefs wollen dies nicht allein einer übermächtigen EU-Behörde mit einer ehrgeizigen Präsidentin an der Spitze überlassen und wollen selbst entscheiden. Von der Leyen musste schon vor wenigen Tagen einräumen, dass es wohl auch beim nächsten Gipfeltreffen in Brüssel in gut zwei Wochen noch keine Einigung geben werde.
Merkel bleibt als EU-Ratspräsidentin ganz deutsche Kanzlerin – und von der Leyen möchte Europas Antreiberin sein. Während Erstere in ihrem Parlament mit einer klaren Mehrheit für die schwarzrote Koalition regieren kann, muss Zweitere um Mehrheiten im EU-Parlament heftig ringen, dessen Unterstützung sie braucht. Nicht einmal der einhelligen Unterstützung der eigenen Christdemokraten kann sich Ursula von der Leyen sicher sein. Bei dem Versuch, die politische Parlamentsmitte von Christ- und Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen zusammenzubinden, gelang ihr zwar eine vielbeachtete Antrittsrede. Doch im Juli vergangenen Jahres votierten mehr als 20 Abgeordnete aus den eigenen Reihen gegen sie, weil ihnen die Green-Deal-Vordenkerin zu rotgrün-lastig geworden war.
Inzwischen machen in Brüssel distanzierende Äußerungen von EVP-Fraktionschef Manfred Weber die Runde, in denen die Zustimmung zu einer klimaneutralen Zukunft davon abhängig gemacht wird, „welche neuen Auflagen unsere Wirtschaft verkraften kann“. Es gilt als kaum denkbar, dass Weber einen solchen möglichen Kurswechsel ohne Billigung von oben eingeleitet haben könnte. Nun sind Meinungsunterschiede noch lange keine Differenzen. In jedem Fall müssen Merkel und von der Leyen in den kommenden sechs Monaten erkennbar an einem Strang ziehen. Denn beide wissen, dass sie einander brauchen, damit diese Union wieder auf einem guten Weg ist. Ein Fehlschlag würde beide schwer beschädigen.
„Die Kanzlerin weiß, dass ich losmarschiere,
wenn ich eine Aufgabe habe.“
Ursula von der Leyen
EU-Kommissionspräsidentin