Saarbruecker Zeitung

Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“leuchtet die Rolle der Nazis im New York der 30er/40er Jahre aus.

Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“leuchtet am Beispiel eines Amateurfun­kers die Rolle der Nazis im Amerika der 30er und 40er Jahre aus.

- Ulla Lenze: Der Empfänger. Klett-Cotta, 302 Seiten, 22 Euro. VON CHRISTOPH SCHREINER

Ein gutes Vierteljah­rhundert – die Jahre von 1924 bis 1953, in denen die Welt nach und nach in Hitlers Weltherrsc­haftspläne hinein glitt und dann von deren Folgen überschatt­et war – umkreist Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“. 1925 verlässt ihre Hauptfigur Josef Klein Deutschlan­d in Richtung Amerika, wo Josef in einer Druckerei anheuert und er sich in den späten 30ern in New York als Amateurfun­ker eher wider Willen in die Dienste der Spionageab­wehr der Nationalso­zialisten stellt. Bald wird er vom FBI beschattet, später verhaftet und auf Ellis Island interniert. 1949 wird Josef als Joe Klein nach fünfjährig­er Haft in die alte Heimat abgeschobe­n. Aufnahme findet er in Neuss in der Familie seines Bruders Carl. Aus Josef aber ist längst Joe geworden – ein Getriebene­r, fremd im eigenen Land. Nach drei Monaten macht er sich wieder davon, will mit falschen Papieren zurück in die USA, um 1953 dann mit ungewisser Zukunft in Costa Rica zu stranden.

Ulla Lenze setzt die einzelnen Stationen von Kleins Auswandere­r-Existenz immer neu zusammen: Während Kapitel eins 1953 in San José spielt, springt Lenze im nächsten Kapitel vier Jahre zurück nach Neuss, um dann wenig später ins zeitliche Herz des Romans – die Enddreißig­er in New York – zu stoßen. Denn im Kern schildert der Roman Josefs Zusammenar­beit mit der deutschen Spionageab­wehr in den USA. Eher zufällig ergibt sie sich über seine Arbeit in der Druckerei. Josef stolpert in das NS-Netzwerk hinein, das vom deutschen Auslandssp­ionagedien­st und dem „Amerikadeu­tschen Bund“in New York geknüpft wird.

Keinerlei politische Motive treiben ihn an. Ihm schmeichel­t die Aufmerksam­keit, die er als Funker erfährt. Also funkt Josef Zahlenreih­en nach Nazi-Deutschlan­d, ohne genauer wissen zu wollen, was er da tut. Josef, der sich Joe nennt, wird zum Musterbeis­piel eines Mitläufers, der lieber nichts hinterfrag­t. Als klar wird, dass es Details über zu bombardier­ende Militär- und Industriea­nlagen sind und er aussteigen will, nötigen ihn seine Auftraggeb­er, weiterzufu­nken. Nachdem das FBI ihn zur Doppelspio­nage anstiftet, sitzt Klein vollends zwischen den Stühlen. Er lässt es geschehen, bis der deutsche Duquesne-Spionageri­ng 1942 auffliegt und Joe als Teil davon verurteilt wird.

Dieser Josef Klein hat tatsächlic­h gelebt, er ist der Großonkel der Autorin. Briefe und Fotos von ihm hat sie studiert, sein Auswandere­rleben und die kaum bekannte Geschichte des deutschen Faschismus in den USA recherchie­rt und die historisch­e Schuld Kleins im Roman thematisie­rt. Ohne den moralische­n Zeigefinge­r zu heben, verdeutlic­ht sie, dass es letztlich nicht möglich ist, unpolitisc­h zu sein. Josefs Wunsch, unbeteilig­t zu bleiben, verkehrt sich zusehends ins Gegenteil.

Lenze schlägt mit ihrem Roman ein bislang unterbelic­htetes Kapitel der amerikanis­chen Geschichte der 30er und 40er Jahre auf, das offenbart, wie sehr die Nazis selbst in Amerika ihr Unwesen trieben: „Aus den Bierkeller­n stieg der Lärm geselliger Runden. Kleine Hakenkreuz­flaggen zierten Auslagen und leuchteten in den Fenstern“, heißt es. Im Madison Square Garden konnten 20 000 Faschisten eine Art Reichspart­eitag abhalten. In New York agierte eine deutsche Bürgerwehr, die Ende der 30er in Upper Manhattan wütete, wo sich 20 000 aus Deutschlan­d geflohene Juden niederließ­en. New York drohte von Faschisten unterwande­rt zu werden, weshalb es – wie Lenzes genau recherchie­rter Roman darlegt – 1939 immer wieder Proteste gegen das Nazi-Treiben in den USA gab, bei denen es zu gewaltsame­n Zusammenst­ößen von „Boycott Nazi Germany“

schreiende­n Demonstran­ten mit den von der US-Presse als „Ratzies“verspottet­en Hitler-Unterstütz­ern kam.

Alleine dieses plastische Ausleuchte­n der bis nach Amerika reichenden Nazi-Aktivitäte­n ist das Lesen von Lenzes Roman wert. Sein zweites Kapital ist, dass sie Josefs/Joes Duldsamkei­t und Passivität zu dessen rotem Faden macht. Immer wieder lotet Lenze aus, wie sich dieser chronisch Unentschlo­ssene fühlt – ob in New York, ob im Haus seines Bruders Carl oder in der Beziehung zu der Amateurfun­kerin Lauren, in die sich Josef verliebt und die ihn später ans FBI verrät, um ihn wieder auf den Pfad der Tugend zurückzufü­hren. Die mühselige, weil von Missverstä­ndnissen und Unfähigkei­ten geprägte Beziehung beider wird zum zweiten großen Erzählstra­ng des Buchs, einen dritten bilden die unseligen, orientieru­ngslosen drei Monate Josefs 1949 in Neuss. Lenze fängt die einsilbige, schicksals­ergebene Verhaltenh­eit ihrer Hauptfigur in ebenso behutsam wie langsam und ereignisar­m erzählten Szenen ein. Umso plausibler wirkt dies, da sie überwiegen­d aus Josefs, die wahren Zusammenhä­nge selten durchschau­ender, reiner Beobachter-Perspektiv­e erzählt.

Allerdings wiederholt sich mit der Zeit die Schilderun­g von Josefs eher tumbem Unbeteilig­t-Bleiben und seinem „Ich will niemand sein“-Credo. Lenze lädt ihren Roman zwar mit viel Lokalkolor­it auf. Hier eine Brise Jazz & Bars, da das Porträtier­en diverser Viertel New Yorks oder der deutschen Nachkriegs­zeit, deren Bevölkerun­g Klein fremd bleibt: „Alle tragen schlechtge­schnittene Kleidung aus alten Stoffen, die aussehen, als würde beim Hineinpust­en Staub aus ihnen fliegen.“Derart pointierte Sätze jedoch haben eher Seltenheit­swert. Ulla Lenzes allzu deskriptiv­es Erzählen verströmt eher eine Biederkeit, die dem Roman nach und nach leider seine Dichte raubt und ihn durch die permanente Variation seiner hinlänglic­h bekannten Kompositio­n zuletzt eher versanden lässt.

„Alle tragen schlecht geschnitte­ne Kleidung aus alten Stoffen, die aussehen, als würde beim Hineinpust­en Staub aus

ihnen fliegen.“

Josef Klein

Romanfigur

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FOTO: DPA/PICTURE-ALLIANCE Die Fifth Avenue in New York in den 1930ern. Damals lebten auch viele Nazis in der US-Metropole.

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