Saarbruecker Zeitung

Saarland bekommt Zentrum für rebellisch­e Kinder

Das Saarland erhält 2021 in Homburg die erste geschlosse­ne Einrichtun­g für sogenannte „Systemspre­nger“. Vor Ort gibt es Widerstand.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS UND ERIC KOLLING

Seit über vier Jahren bohrt die Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) ein dickes Brett. Man will sich vor Ort, im Land selbst, um schwer erziehbare Jugendlich­e kümmern, möchte eine Lücke in der hiesigen Jugendhilf­e-Infrastruk­tur schließen. Eine „geschlosse­ne Einrichtun­g“soll her mit intensiver pädagogisc­her Betreuung. Klingt vernünftig, ist jedoch heikel, denn untergebra­cht werden soll eine Klientel, zu der das Gros der Bevölkerun­g gerne Abstand hält. Die Standort-Frage wurde also von Beginn an als Haupt-Problemfel­d definiert, Akzeptanz zu finden für eine „Anstalt“mit Zaun drumherum. Dementspre­chend wurde bei der AWO dieser Punkt behandelt: als Geheimsach­e. Man rechnete mit Vorbehalte­n und Ängsten – doch hat man sie zerstreut? Die jüngste Entwicklun­g in Homburg spricht dagegen. Dort ging der Stadtrat plötzlich auf Blockade-Kurs. Dabei standen alle Zeichen auf Grün.

Was ist passiert? Rein quantitati­v geht es um eine sehr kleine Gruppe, doch sie gilt als höchst problemati­sch. Birgit Luhmann, Direktorin des sozialpäda­gogischen Netzwerkes der Awo, benutzt für das Verhalten der Jugendlich­en die Vokabel „herausford­ernd“, man kann auch sagen provokant. Denn die Jugendlich­en verweigern sich grundsätzl­ich – der Schule, sozialen Regeln, Hilfsangeb­oten, haben schlimme familiäre Erfahrunge­n gemacht, sind Sucht-und Suizidkand­idaten, mitunter drogenabhä­ngig und gewaltbere­it. Nicht-Fachkundig­e sprechen von „Systemspre­ngern“. Landen diese Jugendlich­e vor Gericht, werden nicht selten „freiheitse­ntziehende Maßnahmen“angeordnet. Die können wenige Wochen oder bis zu zwei Jahren dauern. Die Plätze für die Problemkli­entel, meist männlich und zwischen 13 und 18 Jahre alt, sind allerdings rar. Deutschlan­dweit gibt es rund 300 davon in 26 geschlosse­nen Einrichtun­gen, Bayern führt die Liste mit 124 Plätzen an, Nordrhein-Westfalen folgt mit 70 Plätzen. In acht Bundesländ­ern gibt es überhaupt keine geschlosse­ne Einrichtun­g, eines davon ist das Saarland. Das Ergebnis: 2018 wurden mehr als acht hiesige Jugendlich­e „verschickt“. Experten schätzen die Zahl der nicht umgesetzte­n Beschlüsse für eine solche Unterbring­ung um ein Vierfaches höher. Was bedeutet, das diese schwierige­n jungen Leute in offenen Wohngruppe­n betreut werden müssen, mit niedrigere­n Sicherheit­s- und Kontroll-Standards. Weder ist dadurch die Gesellscha­ft ausreichen­d geschützt, noch erhalten die Jugendlich­en

die optimale Unterstütz­ung. Das erklärte Ziel von Justiz und Jugendämte­rn, den Kindern eine kriminelle Biografie zu ersparen, wird also gefährdet. Unter anderem auch dadurch, dass die Jugendämte­r vor Ort kaum Einblick haben in die Therapien und kosten- und zeitaufwän­dige Dienstreis­en unternehme­n, um ihrer Aufsichtsp­flicht zu genügen. Rund 450 bis 500 Euro pro Tag überweisen hiesige Jugendämte­r an die geschlosse­nen Einrichtun­gen außerhalb des Landes. Doch warum Kinder und Geld aus dem Land geben?, fragten sich irgendwann Jugendhilf­e-Träger hier zu Lande.

Es war das Jugendamt des Regionalve­rbandes, das sich sehr früh für eine geschlosse­ne Einrichtun­g stark machte und sich als Lokomotive erwies für das Awo-Projekt. Nicht selbstvers­tändlich, denn in Fachkreise­n ist das „Wegsperren“von Kindern nicht unumstritt­en. Es folgte ein zäher, landesweit­er Abstimmung­s-Prozess, den die Awo nach eigenem Bekunden transparen­t führte, mit Jugendämte­rn, Krankenkas­sen, der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der SHG-Kliniken und dem Sozialmini­sterium. Der Landesjuge­ndhilfeaus­schuss beschloss 2018 einstimmig „Leitlinien für Angebote der stationäre­n Erziehungs­hilfe mit freiheitse­ntziehende­n Maßnahmen im Rahmen der Hilfen zu Erziehung“.

Schließlic­h entschied sich die Awo für den Standort Homburg, den „Awo-Campus“an der Lappentasc­her Straße 100, auf dem bereits eine Wohngruppe und eine Kita untergebra­cht sind sowie eine – nicht von der Awo betriebene – Musikschul­e, ein im Bebauungsp­lan als Jugendheim ausgewiese­nes, zuvor mit unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en belegtes Gebäude sollte umgebaut werden, für sieben männliche Kinder und Jugendlich­e von 13 bis 18 Jahren mit 24-Stunden-Beaufsicht­igung. 11,5 Mitarbeite­r-Stellen sind vorgesehen. Für die Jugendlich­en wird eine Art Hausarrest herrschen, Ausgang wird nur in einem Stufenkonz­ept gewährt. Es soll einen Zaun geben, freilich keine Knast-Anmutung. „Wir sind eine Erziehungs­einrichtun­g, keine Strafansta­lt“, sagt die Awo-Verantwort­liche Luhmann. Sie betont, man habe den Bürgermeis­ter, Stadtratsa­usschüsse, das Landratsam­t und die Polizei über das Konzept breit informiert und einbezogen. Also sollte vergangene Woche im Stadtrat nur noch formal der Haken dran an die erste „Intensivpä­dagogische Einrichtun­g im freiheitse­ntziehende­n Setting“im Saarland. Die Stadtveror­dneten sollten das von der Unteren Bauaufsich­tsbehörde längst genehmigte und baurechtli­ch nicht mehr zu stoppende Umbau-Vorhaben nur noch durchwinke­n.

Stattdesse­n entwickelt­e sich die Stadtratss­itzung zu einer Grundsatz-Debatte nach dem St. Florians-Prinzip. Eigentlich und theoretisc­h, hieß es, sei man für das Awo-Jugendhilf­e-Angebot in Homburg – nur nicht im Stadtteil Erbach, einem „sozialen Brennpunkt“, erst Recht nicht in der der Nähe einer Musikschul­e und Kindertage­sstätte, und auch nicht mit diesem Konzept – einer vermeintli­ch „schwarzen“, strafenden Pädagogik von Anno Tuck. Und überhaupt wäre eine solche Einrichtun­g viel besser in der Nähe der Homburger Uniklinik aufgehoben. Sprich, ein Alternativ­standort müsse her. Nur mit dem Verweis auf den Rechtsansp­ruch des Bauträgers und auf das drohende Eingreifen der Kommunalau­fsicht gelang ein knapper positiver Beschluss: Zwölf Ja-Stimmen, zehn dagegen.

Awo-Prokurist Jürgen Nieser bedauert, „dass ein baurechtli­ches Genehmigun­gsverfahre­n dazu genutzt wurde, die Eignung des Trägers in Frage zu stellen“. Man lade „in den nächsten Tagen die Verwaltung und alle Fraktionen außer der AFD zu Informatio­nsgespräch­en ein“. Die Stadt habe der Awo das Areal für eine Nutzung durch gemeinnütz­ige und soziale Einrichtun­gen zur Verfügung gestellt, dieser Vorgabe entspreche man. „Ein Alternativ­standort müsste vollkommen neu konzipiert werden und würde die Realisieru­ng des Projektes deutlich erschweren“, stellt er klar. Luhmann wiederum bemüht sich darum, Bedenken zu zerstreuen, es handele sich bei den Jugendlich­en um eine besonders aggressive Gruppe, denn die Jugendlich­en seien keine forensisch­en Patienten, sondern zeigten nur unter bestimmten Bedingunge­n schwierige Verhaltens­weisen: „Ich würde nie sagen, dass das gefährlich­e Jugendlich­e sind.“Zudem gebe es keinerlei Erkenntnis­se darüber, dass diese Jugendlich­en insbesonde­re für andere Kinder eine Gefahr sein könnten. Für Luhmann kommt das Homburger Unigelände als Alternativ­standort überhaupt nicht in Frage: „Die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie ist kein Beheimatun­gs-Ort.“Doch das Sich-Zuhause-Fühlen-Dürfen sei ein wichtiger Baustein im erzieheris­chen Konzept. Sie möchte bereits im Sommer nächsten Jahres Kinder in Homburg unterbring­en.

Rechtlich hat die Awo dafür jetzt freie Bahn. Trotzdem könnte Ungemach drohen: eine Bürgerdeba­tte über angeblich kriminelle Jugendlich­e. Grundlage: mangelnde Informatio­n. Die Awo hat womöglich die wichtigste Gruppe nicht mit ins Boot genommen.

„Ich würde nie sagen, dass das gefährlich­e Jugendlich­e sind.“Birgit Luhmann Direktorin des sozialpäda­gogischen Netzwerkes der A rbeiterwoh­lfahrt

 ?? FOTO: PICTURE ALLIANCE ?? Gewaltbere­ite Jugendlich­e werden mitunter aus erzieheris­chen Gründen in geschlosse­nen Heimen untergebra­cht. In Homburg entsteht jetzt eins.
FOTO: PICTURE ALLIANCE Gewaltbere­ite Jugendlich­e werden mitunter aus erzieheris­chen Gründen in geschlosse­nen Heimen untergebra­cht. In Homburg entsteht jetzt eins.

Newspapers in German

Newspapers from Germany