Saarland bekommt Zentrum für rebellische Kinder
Das Saarland erhält 2021 in Homburg die erste geschlossene Einrichtung für sogenannte „Systemsprenger“. Vor Ort gibt es Widerstand.
Seit über vier Jahren bohrt die Arbeiterwohlfahrt (Awo) ein dickes Brett. Man will sich vor Ort, im Land selbst, um schwer erziehbare Jugendliche kümmern, möchte eine Lücke in der hiesigen Jugendhilfe-Infrastruktur schließen. Eine „geschlossene Einrichtung“soll her mit intensiver pädagogischer Betreuung. Klingt vernünftig, ist jedoch heikel, denn untergebracht werden soll eine Klientel, zu der das Gros der Bevölkerung gerne Abstand hält. Die Standort-Frage wurde also von Beginn an als Haupt-Problemfeld definiert, Akzeptanz zu finden für eine „Anstalt“mit Zaun drumherum. Dementsprechend wurde bei der AWO dieser Punkt behandelt: als Geheimsache. Man rechnete mit Vorbehalten und Ängsten – doch hat man sie zerstreut? Die jüngste Entwicklung in Homburg spricht dagegen. Dort ging der Stadtrat plötzlich auf Blockade-Kurs. Dabei standen alle Zeichen auf Grün.
Was ist passiert? Rein quantitativ geht es um eine sehr kleine Gruppe, doch sie gilt als höchst problematisch. Birgit Luhmann, Direktorin des sozialpädagogischen Netzwerkes der Awo, benutzt für das Verhalten der Jugendlichen die Vokabel „herausfordernd“, man kann auch sagen provokant. Denn die Jugendlichen verweigern sich grundsätzlich – der Schule, sozialen Regeln, Hilfsangeboten, haben schlimme familiäre Erfahrungen gemacht, sind Sucht-und Suizidkandidaten, mitunter drogenabhängig und gewaltbereit. Nicht-Fachkundige sprechen von „Systemsprengern“. Landen diese Jugendliche vor Gericht, werden nicht selten „freiheitsentziehende Maßnahmen“angeordnet. Die können wenige Wochen oder bis zu zwei Jahren dauern. Die Plätze für die Problemklientel, meist männlich und zwischen 13 und 18 Jahre alt, sind allerdings rar. Deutschlandweit gibt es rund 300 davon in 26 geschlossenen Einrichtungen, Bayern führt die Liste mit 124 Plätzen an, Nordrhein-Westfalen folgt mit 70 Plätzen. In acht Bundesländern gibt es überhaupt keine geschlossene Einrichtung, eines davon ist das Saarland. Das Ergebnis: 2018 wurden mehr als acht hiesige Jugendliche „verschickt“. Experten schätzen die Zahl der nicht umgesetzten Beschlüsse für eine solche Unterbringung um ein Vierfaches höher. Was bedeutet, das diese schwierigen jungen Leute in offenen Wohngruppen betreut werden müssen, mit niedrigeren Sicherheits- und Kontroll-Standards. Weder ist dadurch die Gesellschaft ausreichend geschützt, noch erhalten die Jugendlichen
die optimale Unterstützung. Das erklärte Ziel von Justiz und Jugendämtern, den Kindern eine kriminelle Biografie zu ersparen, wird also gefährdet. Unter anderem auch dadurch, dass die Jugendämter vor Ort kaum Einblick haben in die Therapien und kosten- und zeitaufwändige Dienstreisen unternehmen, um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen. Rund 450 bis 500 Euro pro Tag überweisen hiesige Jugendämter an die geschlossenen Einrichtungen außerhalb des Landes. Doch warum Kinder und Geld aus dem Land geben?, fragten sich irgendwann Jugendhilfe-Träger hier zu Lande.
Es war das Jugendamt des Regionalverbandes, das sich sehr früh für eine geschlossene Einrichtung stark machte und sich als Lokomotive erwies für das Awo-Projekt. Nicht selbstverständlich, denn in Fachkreisen ist das „Wegsperren“von Kindern nicht unumstritten. Es folgte ein zäher, landesweiter Abstimmungs-Prozess, den die Awo nach eigenem Bekunden transparent führte, mit Jugendämtern, Krankenkassen, der Kinder- und Jugendpsychiatrie der SHG-Kliniken und dem Sozialministerium. Der Landesjugendhilfeausschuss beschloss 2018 einstimmig „Leitlinien für Angebote der stationären Erziehungshilfe mit freiheitsentziehenden Maßnahmen im Rahmen der Hilfen zu Erziehung“.
Schließlich entschied sich die Awo für den Standort Homburg, den „Awo-Campus“an der Lappentascher Straße 100, auf dem bereits eine Wohngruppe und eine Kita untergebracht sind sowie eine – nicht von der Awo betriebene – Musikschule, ein im Bebauungsplan als Jugendheim ausgewiesenes, zuvor mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen belegtes Gebäude sollte umgebaut werden, für sieben männliche Kinder und Jugendliche von 13 bis 18 Jahren mit 24-Stunden-Beaufsichtigung. 11,5 Mitarbeiter-Stellen sind vorgesehen. Für die Jugendlichen wird eine Art Hausarrest herrschen, Ausgang wird nur in einem Stufenkonzept gewährt. Es soll einen Zaun geben, freilich keine Knast-Anmutung. „Wir sind eine Erziehungseinrichtung, keine Strafanstalt“, sagt die Awo-Verantwortliche Luhmann. Sie betont, man habe den Bürgermeister, Stadtratsausschüsse, das Landratsamt und die Polizei über das Konzept breit informiert und einbezogen. Also sollte vergangene Woche im Stadtrat nur noch formal der Haken dran an die erste „Intensivpädagogische Einrichtung im freiheitsentziehenden Setting“im Saarland. Die Stadtverordneten sollten das von der Unteren Bauaufsichtsbehörde längst genehmigte und baurechtlich nicht mehr zu stoppende Umbau-Vorhaben nur noch durchwinken.
Stattdessen entwickelte sich die Stadtratssitzung zu einer Grundsatz-Debatte nach dem St. Florians-Prinzip. Eigentlich und theoretisch, hieß es, sei man für das Awo-Jugendhilfe-Angebot in Homburg – nur nicht im Stadtteil Erbach, einem „sozialen Brennpunkt“, erst Recht nicht in der der Nähe einer Musikschule und Kindertagesstätte, und auch nicht mit diesem Konzept – einer vermeintlich „schwarzen“, strafenden Pädagogik von Anno Tuck. Und überhaupt wäre eine solche Einrichtung viel besser in der Nähe der Homburger Uniklinik aufgehoben. Sprich, ein Alternativstandort müsse her. Nur mit dem Verweis auf den Rechtsanspruch des Bauträgers und auf das drohende Eingreifen der Kommunalaufsicht gelang ein knapper positiver Beschluss: Zwölf Ja-Stimmen, zehn dagegen.
Awo-Prokurist Jürgen Nieser bedauert, „dass ein baurechtliches Genehmigungsverfahren dazu genutzt wurde, die Eignung des Trägers in Frage zu stellen“. Man lade „in den nächsten Tagen die Verwaltung und alle Fraktionen außer der AFD zu Informationsgesprächen ein“. Die Stadt habe der Awo das Areal für eine Nutzung durch gemeinnützige und soziale Einrichtungen zur Verfügung gestellt, dieser Vorgabe entspreche man. „Ein Alternativstandort müsste vollkommen neu konzipiert werden und würde die Realisierung des Projektes deutlich erschweren“, stellt er klar. Luhmann wiederum bemüht sich darum, Bedenken zu zerstreuen, es handele sich bei den Jugendlichen um eine besonders aggressive Gruppe, denn die Jugendlichen seien keine forensischen Patienten, sondern zeigten nur unter bestimmten Bedingungen schwierige Verhaltensweisen: „Ich würde nie sagen, dass das gefährliche Jugendliche sind.“Zudem gebe es keinerlei Erkenntnisse darüber, dass diese Jugendlichen insbesondere für andere Kinder eine Gefahr sein könnten. Für Luhmann kommt das Homburger Unigelände als Alternativstandort überhaupt nicht in Frage: „Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist kein Beheimatungs-Ort.“Doch das Sich-Zuhause-Fühlen-Dürfen sei ein wichtiger Baustein im erzieherischen Konzept. Sie möchte bereits im Sommer nächsten Jahres Kinder in Homburg unterbringen.
Rechtlich hat die Awo dafür jetzt freie Bahn. Trotzdem könnte Ungemach drohen: eine Bürgerdebatte über angeblich kriminelle Jugendliche. Grundlage: mangelnde Information. Die Awo hat womöglich die wichtigste Gruppe nicht mit ins Boot genommen.
„Ich würde nie sagen, dass das gefährliche Jugendliche sind.“Birgit Luhmann Direktorin des sozialpädagogischen Netzwerkes der A rbeiterwohlfahrt