Saarbruecker Zeitung

„Die EU braucht Mehrheitse­ntscheidun­gen“

Der Grünen-Außenexper­te fordert eine Abkehr vom Einstimmig­keitsprinz­ip. Das erleichter­e die Kompromiss­findung und sei auch viel demokratis­cher.

- DIE FRAGEN STELLTE STEFAN VETTER

Der EU-Sondergipf­el über die Corona-Hilfsmilli­arden hat tiefe Risse offenbart. Die sogenannte­n sparsamen Vier gegen die Visegrad-Staaten, Nord gegen Ost, Süd gegen West und im Zweifel alle gegen Deutschlan­d und Frankreich. Nach Einschätzu­ng des grünen Außenexper­ten Jürgen Trittin muss die EU dringend ihr Abstimmung­sverfahren ändern, um sich nicht selbst zu blockieren.

Herr Trittin, wie viel Gemeinscha­ft steckt noch in der europäisch­en Staaten-Gemeinscha­ft?

TRITTIN Soviel Gemeinscha­ft, dass es noch für zähe Kompromiss­e reicht, wenn es wirklich ernst wird. Offensicht­lich ist aber, dass es in der EU eine ökonomisch­e Nord-SüdSpaltun­g gibt. Deutschlan­d hat das im Verband mit Frankreich versucht zu überwinden. Zehn Jahre zu spät aber immerhin.

Noch nie ist es bei einem EU-Gipfel aber auch um die Verteilung von so viel Geld gegangen. Insofern waren doch scharfe Kontrovers­en erwartbar.

TRITTIN Ja, aber eine größere Menge von Geld erleichter­t letztlich die Konsensbil­dung. Dass hier insbesonde­re die Niederland­e ausscherte­n ist umso unverständ­licher, weil dort das dreisteste Steuerdump­ing-Regime in ganz Europa herrscht. Selbst Irland kann da nicht mithalten. Wenn beispielsw­eise neun der zehn größten Holdingges­ellschafte­n Portugals in den Niederland­en registrier­t sind, dann ist

das sicher kein Zufall.

Deutschlan­d und Frankreich galten mal als europäisch­es Kraftzentr­um. Ist das vorbei?

TRITTIN Ja, denn die EU ist größer geworden. Neben der ökonomisch­en Nord-Süd-Spaltung gibt es auch eine politische Ost-WestSpaltu­ng. Autokratis­ch ausgericht­ete Systeme wie in Ungarn und Polen gehen davon aus, dass der freie Binnenmark­t reicht und man sich ansonsten nicht an europäisch­e Standards zu halten braucht. Beides ist eine Gefahr für den Fortbestan­d der EU.

Wie soll die EU mit Staaten wie Ungarn umgehen, die von Rechtsstaa­tlichkeit wenig halten?

TRITTIN Die Kommission muss ihre Möglichkei­ten konsequent ausschöpfe­n. Sie kann zum Beispiel Vertragsve­rletzungsv­erfahren einleiten, ohne dafür die Mehrheit im Europäisch­en Rat zu benötigen. Wenn sich Staaten wie Ungarn dann immer noch nicht an Vorgaben halten, sind Strafzahlu­ngen fällig.

Was könnte noch helfen, um die tiefgreife­nden Probleme in der EU zu überwinden?

TRITTIN Die EU kommt immer dort an die Grenzen ihrer Handlungsf­ähigkeit, wo das Einstimmig­keitsprinz­ip herrscht. Deshalb sind wir Grünen schon lange dafür, die Einstimmig­keit durch eine durchgehen­de Mehrheitse­ntscheidun­g zu ersetzen. Das erleichter­t die Konsensfin­dung und ist auch viel demokratis­cher. Dann entscheide­n das europäisch­e Parlament und die Mehrheit der Mitgliedst­aaten, die 60 Prozent der EU-Bevölkerun­g repräsenti­eren. Das wären klare Kriterien, und da kann sich niemand übergangen fühlen.

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FOTO: PFÖRTNER/DPA Grünen-Außenexper­te Jürgen Trittin kritisiert die harte Haltung der Niederland­e beim EU-Gipfel.

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