Saarbruecker Zeitung

Fast jedes fünfte Kind im Saarland lebt in Armut

2,8 Millionen Heranwachs­ende sind einer Studie zufolge betroffen. Die Corona-Krise scheint das Problem noch zu verschärfe­n.

- VON YURIKO WAHL-IMMEL

(dpa) Fast jedes fünfte Kind im Saarland lebt in einer Familie, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen ist. Ihr Anteil stieg in den vergangene­n fünf Jahren von 16,4 auf 19,1 Prozent, wie aus einer von der Bertelsman­n Stiftung veröffentl­ichten Studie hervorgeht. Dies ist der höchste Wert der Flächenlän­der in Deutschlan­d. Der Bundesdurc­hschnitt liegt bei 13,8 Prozent. Am höchsten war im Saarland der Anteil der Kinder in Familien mit Hartz IV im Regionalve­rband Saarbrücke­n: Dort lebte im Dezember 2019 mehr als jedes vierte Kind (28,6 Prozent) unter solchen Bedingunge­n. Die Arbeitskam­mer im Saarland nahm die neuen Daten zum Anlass, ihre Forderung nach Einführung einer Kindergrun­dsicherung zu bekräftige­n.

(dpa) Benachteil­igt, beschämt, belastet. Kinderarmu­t bleibt einer Analyse zufolge mit dramatisch hohen Zahlen eine „unbearbeit­ete Großbauste­lle“und könnte sich durch Corona noch weiter verschärfe­n. Rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendlich­e wachsen in Armut auf – 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen, wie die Bertelsman­n Stiftung am Mittwoch berichtete. „Seit Jahren ist der Kampf gegen Kinderarmu­t eine der größten gesellscha­ftlichen Herausford­erungen in Deutschlan­d.“Dennoch gebe es seit 2014 im bundesweit­en Durchschni­tt wenig Verbesseru­ngen.

Die Untersuchu­ng legt eine kombiniert­e Armutsmess­ung zugrunde. „Das hat den Vorteil, dass wir auch verdeckte Armut mit aufzeigen können und uns niemand durchs Raster fällt“, sagt Projektmit­arbeiterin Sarah Menne. Es werde die relative Einkommens­armut berücksich­tigt – also Kinder aus Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Und auch Heranwachs­ende im Grundsiche­rungsbezug sind einbezogen, deren Familien Hartz IV erhalten.

Kinder- und Jugendarmu­t verharre trotz langer guter wirtschaft­licher Entwicklun­g auf hohem Niveau, so die Stiftung. Mit erhebliche­n Folgen für Wohlbefind­en, Aufwachsen, Bildung und Zukunftsch­ancen, sagt Bildungsex­pertin

Anette Stein. Es trifft mehr als jeden fünften Heranwachs­enden – mit starken regionalen Unterschie­den. Um diese darzustell­en, eignet sich laut Stiftung die kombiniert­e Armutsbetr­achtung allerdings nicht, für regionale Vergleiche schaue man alleine auf den Grundsiche­rungsbezug: Danach lebten 2019 bundesweit 13,8 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Bedarfsgem­einschafte­n. In Westdeutsc­hland stagniere die Quote – sie lag 2019 bei 13,1 Prozent (2014: 12,9 Prozent). Im Osten gab es seit 2014 (22,1 Prozent) zwar einen deutlichen Rückgang, aber immer noch sind es hohe 16,9 Prozent.

Auf kommunaler Ebene habe Gelsenkirc­hen die bundesweit höchste Zahl: Dort seien 41,5 Prozent der Kinder und Jugendlich­en betroffen. In Bremerhave­n (35,2) und Wilhelmsha­ven (33,8) werden ebenfalls besonders viele junge Menschen in armen Verhältnis­sen groß, gefolgt von den Ruhrgebiet­sstädten Herne, Duisburg, Mönchengla­dbach und Dortmund mit mehr als 30 Prozent. Nach

Bundesländ­ern sieht es demnach in Bremen (31,6 Prozent) und Berlin (27,0) besonders ungünstig aus sowie auch im Saarland (19,1), in Bayern (6,3) und Baden-Württember­g (8,1) am besten.

Wie wirkt sich der Geldmangel aus? Zwei Drittel der betroffene­n Kinder können mit ihrer Familie nicht einmal eine Woche im Jahr in Urlaub fahren. Bei der Hälfte steht dem Haushalt kein Auto zur Verfügung, bei vielen reicht das Geld nicht für einmal im Monat Kino, Konzert oder Essengehen. Sie können seltener Freunde nach Hause einladen, an Klassenfah­rten oder einem Schüleraus­tausch teilnehmen. Vor allem bei Freizeitge­staltung und sozialer Teilhabe bestehe eine starke Unterverso­rgung, sagt Stein. „Armut ist das größte Risiko für die Entwicklun­g von Kindern, zumal sie oft lange anhält oder die gesamte Kindheit andauert.“

Was bewirkt Corona? Es sei mit einem deutlichen Armutsanst­ieg zu rechnen. „Hinweise sind Rückgänge bei Minijobs, Teilzeitjo­bs, irreguläre­r Beschäftig­ung, die gerade Eltern benachteil­igter Kinder häufig ausüben, vielfach alleinerzi­ehende Mütter“, erklärt Menne. Sie seien unter den Ersten, die ihre Arbeit verlieren, die wenig oder kein Kurzarbeit­ergeld erhalten. Es komme jetzt auf die richtige Weichenste­llung an. „Es gibt zwei Möglichkei­ten: In der

Corona-Krise bleibt die Bekämpfung der Kinderarmu­t auf Feuerlösch­arbeiten beschränkt – ohne nachhaltig­e Verbesseru­ngen“, sagt Menne. Oder? „Corona wirkt wie ein Brennglas, schärft den Blick auf die ungelöste Benachteil­igung, und der politische Wille für strukturel­le Änderungen nimmt endlich Fahrt auf.“

Jeder vierte Heranwachs­ende aus einkommens­armen Familien habe daheim keinen internetfä­higen PC. Die Hälfte der Kinder lebe in einer Wohnung ohne genügend Zimmer. Stiftungs-Vorstand Jörg Dräger verlangt ein Teilhabege­ld oder eine eigene Grundsiche­rung, die alle Leistungen für Kinder bündele. Die Höhe solle vom Elterneink­ommen abhängig sein, damit das Geld die wirklich Bedürftige­n erreiche, erläutert Anette Stein. Kinder gehörten nicht ins Hartz-IV-System. Unterstütz­ung für den Vorstoß kommt von Verbänden. Auch die Bundestags­fraktionen von Linke, SPD und Grünen mahnen eine Kindergrun­dsicherung an. Die Bertelsman­n Stiftung in Gütersloh kündigt nun eine Kampagne „Stoppt Kinderarmu­t“in den sozialen Medien an. Familienex­pertin Antje Funcke sagt: „Obwohl Kinder nichts für die finanziell­e Lage ihrer Eltern können, ist Armut bei ihnen oft mit Scham- und Schuldgefü­hlen besetzt. Wir müssen also auch ermutigen und Armut enttabuisi­eren.“

 ?? FOTO: PICTURE ALLIANCE/JŠÖRG CARSTENSEN/DPA ?? Mittagesse­n beim christlich­en Kinder- und Jugendwerk Arche. Millionen Kinder und Jugendlich­e wachsen in Deutschlan­d in Armut auf – mehr als jeder fünfte Heranwachs­ende. Eine Analyse warnt vor einer Verschärfu­ng der Lage infolge der Corona-Krise.
FOTO: PICTURE ALLIANCE/JŠÖRG CARSTENSEN/DPA Mittagesse­n beim christlich­en Kinder- und Jugendwerk Arche. Millionen Kinder und Jugendlich­e wachsen in Deutschlan­d in Armut auf – mehr als jeder fünfte Heranwachs­ende. Eine Analyse warnt vor einer Verschärfu­ng der Lage infolge der Corona-Krise.

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