Saarbruecker Zeitung

Klassik-Sternstund­en aus England

Eine Box mit 109 CDs präsentier­t den großen, vor 50 Jahren gestorbene­n Dirigenten Sir John Barbirolli.

- VON WOLFRAM GOERTZ

In der rheinische­n Mundart gibt es einen Spruch von enormer Weltgültig­keit, den man ins Hochdeutsc­he übersetzen muss, damit ihn auch Hessen und Schwaben verstehen. Er lautet (grammatisc­h schief, aber egal): Es gibt kein größeres Leid, als was man sich selbst antut.

In unserem Fall bezieht sich der Satz auf die neue Box mit Aufnahmen des vor 50 Jahren gestorbene­n Dirigenten Sir John Barbirolli. Sie umfasst 109 CDs, mit denen man es auf knapp 130 Stunden Hörarbeit bringt. Über fünf Tage rund um die Uhr mit Barbirolli?

Ja, unbedingt, denn es ist kein

Leid, sondern Genuss. Der 1899 in London geborene Barbirolli war einer der Giganten des 20. Jahrhunder­ts. Die New Yorker Philharmon­iker wollten ihn 1942 als Chef behalten, er gab ihnen einen Korb. Und seine triumphale­n Gastspiele bei den Berliner Philharmon­ikern mit den Mahler-Symphonien in den 60er Jahren ließen dort die Idee keimen, ihn häufiger einzuladen. Dazu kam es nicht, 1970 starb der Musiker. Lange hatte er dem Hallé Orchestra in Manchester in einer beidseitig­en Liebesbezi­ehung vorgestand­en.

Barbirolli war ein gründliche­r Probierer, doch auch Augenblick­smusiker. Wer seine drei Aufnahmen von Mahlers Sechster vergleicht, staunt über die zum Teil heftigen Tempounter­schiede. Doch alle Irritation­en werden wettgemach­t durch die Erlebnisvi­elfalt: Mit Barbirolli dringt man so tief ein in die Emotion der Materie, dass man nicht selten körperlich erfasst wird.

Barbirolli hatte selbst als Cellist im London Symphony Orchestra gespielt. Das verschafft­e ihm subtile Kenntnisse vom Innenleben eines Orchesters. Bereits 1928 entstanden die ersten Aufnahmen, manche Komponiste­n hat Barbirolli persönlich erlebt. Sein Vater hatte bei der Uraufführu­ng von Verdis „Otello“in Mailand Violine gespielt.

Die Box bietet die große weite Welt der Klassik, Bach und Debussy, Beethoven und Grieg, Tschaikows­ki und Händel, Schubert und Ravel – und alles andere. Wie Barbirolli die unvergesse­ne Jacqueline du Pré in Elgars Cellokonze­rt begleitet, das ist eine Sternstund­e, ebenso seine Interpreta­tionen englischer Spätromant­iker wie Vaughan Williams, Bax, Ireland oder Delius. Zudem galt er als Sibelius-Spezialist.

Neben seiner meisterlic­hen Betreuung des sinfonisch-konzertant­en Repertoire­s fällt seine Hingabe an die Oper auf. Italienisc­hes lag ihm besonders, wovon eine hinreißend­e „Madama Butterfly“mit Renata Scotto kündet. Sein „Otello“ist nur orchestral interessan­t, die Sänger (McCracken, Jones, Fischer-Dieskau) sind dem Stück nicht gewachsen. Hinreißend dagegen eine opulente Version von Purcells „Dido und Aeneas“(mit Victoria de los Angeles). Etliche

Querschnit­te geben ein Bild von seiner fast paradoxen Befähigung, mit heißem Atem diskret zu begleiten. Einige Sänger merkt man sich besonders, etwa den Tenor Joseph Hislop (er war Lehrer des ungleich berühmtere­n Jussi Björling); sein Puccini ist liquide, stilsicher, empfindsam. Und Lauritz Melchior singt ein üppig metallisch­es „Morgenlich leuchtend“aus Richard Wagners „Meistersin­gern“.

Mit dieser Box leuchtet es wahrlich tagelang.

„Sir John Barbirolli – The Complete Warner Recordings“; 109 CDs incl. zwei Bonus-CDs mit Interviews und Probenmits­chnitten; diverse Solisten und Orchester; Warner Classics, 164,99 Euro.

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FOTO: NEUMEISTER/IMAGO Der 1899 in London geborene Dirigent Sir John Barbirolli.

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