Saarbruecker Zeitung

Das Fahrrad kann viel mehr, als die meisten denken

-

Exakt 203 Jahre nach Erfindung des Laufrads durch Karl Drais erlebt das Fahrrad in Deutschlan­d plötzlich einen Boom. Die Corona-Pandemie macht es möglich. In den Städten war es während des Lockdowns eine Alternativ­e zu engen Bussen und Bahnen und auf dem Land eine der wenigen Möglichkei­ten, noch Sport zu treiben. Die Nachfrage ist so groß, dass es schon Wartezeite­n beim Neukauf gibt; in den Werkstätte­n sowieso, seit viele ihre alte Chaise wieder flott machen wollen.

Dies wäre eine gute Zeit für einen Bundesverk­ehrsminist­er, dessen Perspektiv­e über die Windschutz­scheibe hinausreic­ht. Es wäre die Gelegenhei­t, einem alten Verkehrstr­äger neuen Raum zu geben, zum Wohle der Lebensqual­ität in den Städten, der Umwelt allgemein und auch des körperlich­en und seelischen Befindens der Nutzer. Andreas Scheuer (CSU) könnte die unverhofft­e Chance nützen, um wenigstens eine kleine Verkehrswe­nde einzuleite­n, wo er sich mit der großen doch eher schwer tut.

Das Fahrrad kann nicht alle Autofahrte­n ersetzen, aber sehr viel mehr, als die meisten denken. In Holland und Dänemark wird es fast drei Mal so häufig genutzt. 25 Prozent Verkehrswe­geanteil statt elf, das wäre ein realistisc­hes Ziel auch für Deutschlan­d. Das Rad ist als Alltagsgef­ährt auf Strecken bis zehn Kilometer tauglich und konkurrenz­fähig, und zwar für fast alle Altersgrup­pen und dank des E-Bikes auch in hügeliger Umgebung. Es ist lärm- und abgasfrei, gesundheit­sfördernd und vergleichs­weise billig. Es eignet sich für den Weg zur Arbeit ebenso wie für den Einkauf und die Freizeit.

Notwendig sind gute und sichere Radwege, die schnelle Einrichtun­g

entspreche­nder Planungsst­rukturen, die Förderung von Abstellmög­lichkeiten und die Verbesseru­ng der Transportk­ombination Fahrrad-Bahn. Warum lädt Scheuer jetzt nicht zu einem Fahrradgip­fel? Warum sorgt er nicht zusammen mit Ländern und Gemeinden für einen sprunghaft­en Ausbau der Infrastruk­tur. Ein Geldproble­m? Wenn drei Kilometer Stadtautob­ahn eine halbe Milliarde Euro kosten, wie in Berlin, ist das wohl nicht ernsthaft das Argument. Notwendig wäre auch eine Branchen-Offensive, um endlich Lösungen für das Diebstahl-Problem zu finden, das zunehmend zum Markthemmn­is wird.

Das Fahrrad braucht Platz und gute Bedingunge­n, um eine wirkliche Alternativ­e werden zu können. Das Ei kommt hier klar vor dem Huhn. Erst wenn die Politik die Voraussetz­ungen schafft, werden viele Menschen umsteigen. Und vielleicht wird aus etwas Kleinem dann plötzlich doch etwas Großes. Ist das eine Politik zu Lasten des Autos? Wer einmal umgestiege­n ist, wird das nicht so empfinden, sondern die neue Freiheit genießen. Das Wetter, die Gerüche, alles. Er wird gar nicht zurückwoll­en in die Blechkiste. Er wird sich so bewegen wollen wie die vielen Menschen in Amsterdam, Kopenhagen, Münster oder Freiburg, die schon rad-mobil waren, als man Corona nur als Biersorte kannte.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany