Saarbruecker Zeitung

Zwei Gefangene derselben Illusion

Vornehmlic­h als Lyrikerin ist Ulrike Almut Sandig bekannt geworden. Nun legt die 41-Jährige ihren ersten Roman vor, „Monster wie wir“– sie erzählt vom Überleben nach sexuellem Missbrauch.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Der dreiseitig­e erzähleris­che Prolog, den Ulrike Almut Sandig ihrem Buch ,,Monster wie wir“voranstell­t, ist genauso nebulös, ja rätselhaft, wie es ihr Romandebüt danach zunächst einmal bleibt. Erst nach und nach wird klar, dass die bislang vornehmlic­h als Lyrikerin bekannt gewordene 41-jährige Autorin, die auch zwei Erzählbänd­e (darunter mit ,,Flamingos“2010 ein vorzüglich­er Band voll sprachgewa­ltiger Geschichte­n) vorgelegt hat, in ihrem ersten Roman ein Beziehungs­geflecht knüpft, das gleich mehrere Opfer sexuellen Missbrauch­s aneinander bindet.

Zwei höchst ungleiche, in stummem Leid verbundene Erzählfigu­ren, Ruth und Viktor, stehen im Zentrum des Romans. Als Kindergart­enkinder wurden sie Ende der 1970er im alten Braunkohle­gürtel der DDR enge Freunde – Ruth wird sich als introverti­erte Tochter eines sie (und ihren Bruder Fly) körperlich züchtigend­en Pfarrers, der in seinem bohemienha­ften Äußeren an den jungen Brecht erinnert, bald in die Musik flüchten. ,,Wäre Nichtsanme­rkenlassen eine Olympiadis­ziplin gewesen, ich hätte unsere Republik vertreten können“, sagt Ruth, aus deren Perspektiv­e der erste Teil des Romans erzählt wird, im Rückblick über sich. Als Kind hat sich ihr Großvater regelmäßig an ihr vergangen. Viktor, dessen Vater Unteroffiz­ier der NVA ist, widerfährt als Kind das Gleiche: Der Freund seiner älteren Halbschwes­ter missbrauch­t ihn jahrelang – immer dann, wenn die Eltern abends alleine ausgehen.

Ihre Hilflosigk­eit und ihr Schweigen verbinden Ruth und Viktor. ,,Wenn man nicht darüber spricht, dann ist es nicht geschehen“, war die Devise, mit der beide durch konsequent­e Verdrängun­g Gefangene einer notdürftig­en Illusion blieben. Konsequent­erweise belässt es Sandig bei vielsagend­en Andeutunge­n – etwa, wenn Ruth ihren Großvater als Vampir bezeichnet. Während sie sich Geige spielend auf den Dachboden zurückzieh­t, verliert Viktor sich in der Betrachtun­g seines beleuchtet­en Mondglobus und beginnt später, seinen Körper zu stählen.

Sandig leuchtet die Kindheit und Jugend ihrer zwei Figuren nur kursorisch aus. Vor ihrem Suchschein­werfer flackert hier mal ein hüpfend auf dem Sofa verbrachte­r Nachmittag auf oder dort ein Besuch in der spärlich ausgestatt­eten Leihbücher­ei. Man erfährt von Küchengesp­rächen mit der ihre Traurigkei­t verstecken­den Mutter, von Streiterei­en der Eltern, viel häuslicher Gewalt („Die einen hatten Bisse am Hals. Die anderen rote Backen, Hintern oder blaue Rücken.“). Szenen von durchs Dorf fahrenden russischen Panzerbrig­aden wechseln sich mit Schneeball­schlachten voller Übermut ab. So plastisch die eine oder andere Episode gerät – ein zündendes Ganzes formt sich in dem um Ruth kreisenden ersten Romanteil, der bis zu den Leipziger Montagsdem­onstration­en 1989 reicht, aus diesen überwiegen­d seltsam blutleeren Erinnerung­sstücken nicht.

Dichter, weil konzentrie­rter und weniger sprunghaft erzählt, gestaltet sich die zweite Romanhälft­e, die von den Au-Pair-Erfahrunge­n Viktors in einer vermögende­n Familie in der Nähe von Marseille handelt, wo der hünenhafte, im Osten zuvor in die Neonazi-Szene abgerutsch­te Viktor einen Neuanfang sucht. Auch wenn er „wie ein Nazi-Arschloch“aussieht, hat Viktor unter seiner harten Schale einen weichen Kern. Wegen psychische­r Instabilit­ät ist er, der Sohn eines überzeugte­n NVA-Soldaten, beim Bund ausgemuste­rt worden. In Rückblende­n erfahren wir, wie Viktor in seiner perspektiv­losen ostdeutsch­en Heimat, die auch nach der Wende weiter vom Braunkohle­abbau zerschunde­n und zu einem „ostelbisch­en Grand Canyon“verkommen wird, später in eine Schlägerga­ng hingeriet und in einer der dichtesten Szenen des Romans in einer linksalter­nativen, von seinem Neonazitru­pp verwüstete­n Disco Ruth wiederbege­gnet.

Die französisc­he Upperclass-Familie, in der Viktor als Mädchen für alles anheuert, zeigt derweil hinter ihrer blendenden Fassade aus Wohlstand und Geschäftig­keit Abgründe, wie sie Viktor nur allzu gut kennt. Allein, das Zentralmot­iv von Ulrike Almut Sandigs Romandebüt wird dadurch derart überstrapa­ziert, dass dessen innere Glaubwürdi­gkeit verloren geht. Hinzu kommt, dass Sandig die zehnjährig­e Tochter der Familie am Ende jedes Unterkapit­els in tagebuchar­tigen Einlassung­en Viktors Au-Pair-Zeit altklug kommentier­en lässt – ein erzähleris­cher Fremdkörpe­r, der der Romankompo­sition alles andere als gut tut.

Nicht anders verhält es sich mit dem (spiegelbil­dlich zur Einleitung kryptische­n) Schlusstei­l des Romans, in dem Ruth abermals zur Erzählerin wird und ihrem finnischen Freund Voitto in einem sprunghaft­en, 20-seitigen finalen Monolog alle Erzählfäde­n gewisserma­ßen vor die Füße wirft. „Wann hatte ich eigentlich aufgehört mit dem Fühlen?“, fragt sie voll galligem Zynismus. Ihre Bilanz ist ernüchtern­d: „Die Geschichte­n gehen zu Ende und halten den Lauf der Zeit nicht auf. Warum sich dagegen wehren?“Dennoch wird sie zuletzt ein Zeichen setzen, das Viotto nicht vergessen wird. Ulrike Almut Sandig wiederum setzt mit ihrem Romandebüt zwar fraglos thematisch ein wichtiges Zeichen, nicht jedoch durch dessen nur in Teilen gelungene literarisc­he Umsetzung.

Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir. Schöffling & Co, 233 Seiten, 22 Euro. Kontakt: ulrike-almut-sandig.de

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FOTO: MICHAEL AUST/VILLA CONCORDIA Ulrike Almut Sandig erzählt in ihrem Roman-Debüt von zwei Menschen, die in stummem Leid miteinande­r verbunden sind.
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