Sorgen im Saarland wegen neuer EU-Klimaziele
Strengere Klimaauflagen könnten der SaarAutoindustrie schwer zusetzen. Davor warnen Stimmen aus Wirtschaft und Politik.
BRÜSSEL/SAARBRÜCKEN (mzt/dpa) Die verschärften Klimaziele der EU-Kommission haben die Sorgen in der Saar-Wirtschaft um die Zukunft der Autoindustrie im Land verstärkt. Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte am Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der EU zuvor angekündigt, dass Brüssel den CO2-Ausstoß in der Europäischen Union bis 2030 um mindestens 55 Prozent senken will. Bisher war das Ziel, die Emissionen im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent zu reduzieren.
„Wir befürchten eine Deindustrialisierung“in Deutschland, wenn die Zielvorgabe nicht mit einer Strategie verknüpft werde, wie der Weg der massiven CO2-Reduktion zu schaffen sei, warnt Heino Klingen, Hauptgeschäftsführer der Industrieund Handelskammer des Saarlandes (IHK). Das Industrieland
Saarland wäre besonders betroffen, speziell die Autobranche, so Klingen. Viele Arbeitsplätze seien in Gefahr. Um dies zu verhindern, müsse unter anderem der CO2-Emissionshandel auf die Bereiche Verkehr und Gebäude ausgeweitet, politisch die Versorgung mit Öko-Strom vorangebracht und ein EU-Zollregime aufgebaut werden, das „schmutzig“erzeugte Waren aus dem Ausland verteuert, fordert Klingen.
Der saarländische FDP-Bundestagsabgeordnete Oliver Luksic wertet die CO2-Verschärfungen als „schweren Schlag für die saarländische Wirtschaft“. Er befürchtet den „Todesstoß“für die Saar-Autoindustrie und mittelfristig den Verlust von mehr als 20 000 Stellen. Die EU-Klimavorgaben könnten zum „Sargnagel“der deutschen Schlüsselindustrie werden, sagt auch Armin Gehl. Doch der Geschäftsführer des regionalen Branchennetzwerks Autoregion sieht Möglichkeiten gegenzusteuern. Er fordert eine Kaufprämie für moderne Verbrenner und eine noch stärkere Förderung von Plug-in-Hybriden. Mit dieser Technik seien die Klimavorgaben zu schaffen.
Als Ursula von der Leyen am Mittwochmorgen ans Rednerpult des Europäischen Parlamentes in Brüssel trat, wusste sie, dass die Erwartungen unerfüllbar hoch sind. Migration, Klima, Russland, Belarus, Coronavirus – zu allen Themen wurden von ihr klare Ansagen erwartet. Mitten in einer der tiefsten Krisen dieser Gemeinschaft. „Ein Virus, tausend Mal kleiner als ein Sandkorn, hat uns gezeigt, dass unser Leben an einem seidenen Faden hängt“, sagte sie wenige Augenblicke später. „Es hat uns unsere Verletzlichkeit vor Augen geführt.“
Von der Leyen ließ bei ihrere Premierenrede zur Lage der EU kein heißes Eisen aus. Beim Klimaschutz forderte sie statt der beschlossenen Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2030 um 40 Prozent einen Abbau um „mindestens 55 Prozent“. Das sei „ehrgeizig, machbar und gut für Europa“. Als Lehre aus der Pandemie will sie mehr Kompetenzen der EU für eine „Gesundheitsunion“, um für „künftige Krisen besser gewappnet zu sein“. Den Umbau der Wirtschaft auf eine klimaneutrale Produktion bezeichnete sie als „Bauplan unserer Zukunft“. Um Gebäude entsprechend zu sanieren, forderte sie eine „europäische Renovierungswelle“und schlug ein „europäisches Bauhaus“vor, einen „Raum, in dem Künstler, Architekten, Studenten, Ingenieure und Designer gemeinsam und kreativ an diesem Ziel arbeiten“. Eine „digitale Dekade“soll zum Aufbruch Europas ins digitale Zeitalter werden – inklusive europäischer Cloud und einem modernen Umgang mit persönlichen Daten: „Jedes Mal, wenn eine Webseite uns auffordert, eine neue digitale Identität zu erstellen, haben wir keine Ahnung, was mit den Daten geschieht“, sagte sie. Eine „sichere europäische Identität“soll das verbessern. Sie verurteilte die polnische Bewegung gegen Lesben, Schwule und Transgender, schickte den Menschen in Belarus das Signal: „Wir stehen auf eurer Seite.“Bei der Migration erinnerte sie „an die gemeinsamen Werte“. So sei „die Rettung von Menschen in Seenot keine Option, sondern eine Pflicht“. Asylund Rückführungsverfahren will sie miteinander verknüpfen. Details zu einem neuen gemeinsamen Asylrecht folgen in der kommenden Woche. Eines sei jedoch klar: „Alle müssen mitmachen.“
Es gab aber auch die andere, menschliche Seite dieses Auftritts. Von der Leyen begann mit einem Dank an die Pflegekräfte und Ärzte, die sich um kranke und ältere Menschen in der Pandemie gekümmert haben. Und sie endete mit einem Dank an „die Millionen von jungen Menschen, die für eine intaktere Umwelt auf die Straße gehen“. Für einen Moment schien diese Gemeinschaft mit dem für von der Leyen typischen Schlusssatz „Es lebe Europa“um eine strahlende Rede reicher zu sein. Aber die Abgeordneten haben gelernt, dass die Kommissionspräsidentin gerne viel verspricht, es dann aber sehr lange dauern kann, bis wirklich konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt werden – und dass man sich die sehr genau ansehen sollte.
Die sozialdemokratische Umweltpolitikerin Delara Burckhardt und die Umweltorganisation Greenpeace haben das bei den neuen Klimazielen getan und festgestellt, dass es sich um eine „ambitionierte Mogelpackung“handelt. Der Grund: Die Kommission will die Menge an CO2, die von den Wäldern und der Landwirtschaft der Atmosphäre entzogen werden, von ihrem Reduktionsziel 55 Prozent abziehen. Dann blieben lediglich 51 oder 52 Prozent, aufgrund weiterer Tricks sogar nur 45 Prozent übrig. Das wären gerade mal fünf bis sieben Prozentpunkte mehr als bisher.
Dagegen beklagte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), die Ziele würden zügig angehoben, bei den notwendigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft sei aber „vieles noch Wunschdenken“. Lüder Gerken, Chef des Centrums für europäische Politik (cep) in Freiburg, sprach sogar offen von „wirtschaftspolitischem Harakiri“.
Tatsächlich hat die Kommissionspräsidentin ihren eigentlichen Kampf noch vor sich. Bei den Autobauern fürchtet man nichts mehr als eine nochmalige Senkung der Höchstgrenze für CO2-Emissionen, die je gefahrenem Kilometer aus dem Auspuff kommen. Angeblich gibt es Pläne der EU-Kommission, die eine Halbierung der heutigen Grenzwerte bis 2030 vorsehen. Würde darauf, wie vor allem von Deutschland gefordert, verzichtet, müssten die fehlenden Anteile am Ziel von anderen Branchen aufgebracht werden. Deren Reaktion ist leicht vorstellbar. Hinzu kommt, dass auch die Mitgliedstaaten noch nicht einig sind. Polen verweigert weiter seine Unterstützung für einen klimaneutralen Umbau bis 2050. Aus anderen EU-Ländern kommt noch weitergehende Kritik: Schließlich sei die Klimaneutralität gar keine echte Lösung, weil man den CO2-Ausstoß nur auf die Menge senken wolle, die dann von Bäumen, Pflanzen und der Agrarwirtschaft kompensiert werde.