Ein visuelles Spiel gegen Corona-Frust
Keine Konfektionsware: In Stijn Celis’ neuer Choreographie „Sound & Vision“vertanzt das Saarbrücker Staatsballett eigene Erfahrungen während der Pandemie.
Als einen „Befreiungsschlag“bezeichnete am Samstag der Intendant des Saarländischen Staatstheaters die Ballettpremiere im Großen Haus. Die Rückkehr des Ensembles auf die große Bühne und vor nur 250 Zuschauer war Bodo Busse eine Ansprache wert und am Ende eine auf der Bühne mit Rosen zelebrierte neuartige „Premierenfeier“. Jawohl, trotz Corona-Pandemie: Let’s dance! Mit diesem David-Bowie-Dancefloor-Klassiker stürzt sich das neue Stück von Ballettchef Stijn Celis, das sich mit der Lebenssituation der Tänzer während des Lockdowns beschäftigt, energiegeladen und lebensfroh hinein – ins Heute, das ihnen den öffentlichen Auftritt wieder erlaubt.
Oder befinden wir uns zu Beginn von „Sound und Vision“doch in der schlimmsten, der frustrierendsten Isolations-Phase der Corona-Tage? In „Sound und Vision“verausgaben sich die Tänzer im exakt choreographierten Freestyle – nennen wir sie besser gleich Figuren. Denn Celis hat sie aus ihrem biografischen Korsett befreit. Das Ensemble trägt Fantasie-Kostüme mit exzentrischen Ausschnitten, die nackte Haut zeigen. Auf den knackengen Suits explodieren schwarze Sterne: „Blackstar“hieß das letzte, kurz vor Bowies Tod entstandenes Album. Auch zitiert Kostümbildnerin Laura Theiss das schwarz-weiße Streifenmuster aus Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“. Zurück in die Ballett- und Musik-Geschichte statt ins Hier und Jetzt? In „Sound und Vision“soll es doch um Brandaktuelles gehen, die in Tagebüchern und Videos festgehaltenen Eindrücke der jungen, international beheimateten Ensemblemitglieder: Um ihr Eingesperrtsein in Saarbrücken, während die Sorge um Freunde und Familie in stärker Corona-betroffenen Ländern wächst, die Entkoppelung vom Theater-Berufs-Alltag. Wie leicht hätte daraus ein klaustrophobisch-deprimierender Abend werden können. Oder auch ein banal erzählerischer, der Intimes aufgreift und sich als zeitgeschichtliches Dokument (miss)versteht.
Stattdessen findet man sich bei Celis‘ „Sound und Vision“ganz woanders wieder, in einem visuellen
Spiel. Einmal mehr katapultiert uns der Saarbrücker Ballettchef weit hinaus in einen Gesamtkunst-Kosmos, dessen Logik ästhetisch funktioniert und nicht inhaltlich, als sei es ein Bild von Piet Mondrian. Erstmals arbeitet Celis durchgängig mit zeitgenössischer U-Musik, doch es macht wenig Sinn, darüber nachzugrübeln, ob die zehn Songs, die er unverbunden abspielen lässt, während des Lockdowns für einen der 18 Tänzer oder für ihn, den Choreographen, wichtig waren, sei es Edith Piafs Chanson „Je ne regrette rien“, die düstere Heavy-Rock-Ballade „Seemann“von Rammstein oder der experimentelle Sprechgesang von Robert Ashley. Es ist eine heterogene, in Tanz-Miniaturen zersplitterte Welt, zu der Celis uns die Tür öffnet, ganz konkret.
Auf der Bühne drehen sich gigantisch hohe Scheiben – Wohnungs-Wände. Sie verkanten sich, öffnen immer wieder neue, scharf geschnittene Räume. Kühl die Farbwelt, die der Pop-Art nahe steht: altrosa, fahl gelb, pistaziengrün. Sebastian Hannak hat ein abstraktes Wunderwerk, für „Sound and Vision“entwickelt: ein virtuos vielseitiges, magisches Labyrinth der Geometrie. Hier paart sich mathematische Strenge mit kesser Leichtigkeit. Auch tänzerisch-choreographisch läuft „Sound und Vision“jenseits von Konfektion und Konvention.
Dafür sorgen die Corona-Regeln: Tanzen ohne Körperkontakt. Das heißt bei Celis über weite Strecken: Tanzen in Solo-Auftritten – aber als Ensemble. Denn anders als erwartet hat der Ballettchef für seine Tänzer keine ausufernden Einzel-Chorographien geschaffen, sondern er führt sie immer wieder in Gruppen zusammen, die weit entfernt, an den Rändern agieren, jeder Tänzer allein und auf Abstand, und doch sind oft viele präsent. Natürlich-anmutig und zugleich makellos exakt bewegen sich die Tänzer sogar in den vermeintlich frei improvisierten privaten Momenten. Film-Sequenzen transportieren Aufnahmen aus Wohnungen oder vor Garagentoren, auf der Bühne verkriechen sich nicht wenige immer mal wieder in die Ecken oder agieren gegen die Wand, mit dem Rücken zum Publikum. Im Bewegungsrepertoire blitzen sportliche Übungen, Spitzen-Tanz-Figuren und ausgelassene Individual-Tänze auf.
Eine der gelungensten Sequenzen ist die zu Ravels „Boléro“: Nervt sie nicht, diese Musik, die nicht von der Stelle kommt, während sie sich emotional immer mehr dynamisch auflädt? Es gibt kaum ein besseres Musikstück wie dieses für unser aller Corona-Feeling. Die Tänzer produzieren sich in pathetischen Posen, die plötzlich verquer abbrechen. Man erinnert sich, wie bitterkomisch all die einsamen Selbst-Performances im Netz wirkten. Einer der Tänzer (Alexander Andison) soll oder will David Bowie sein – und singt dann doch „Sound of Silence“, die Schnulze von Paul Simon. A-Capella-Gesang, wunderbar klar, das greift ans Herz. Wobei Celis offensichtlich eher an ironische Brechung dachte. Immer mal wieder versucht er’s mit Humor, was jedoch nur bedingt glückt, und mancher Einfall wirkt auch nur selbstbezüglich. Doch insgesamt schenkt uns „Sound and Vision“viele sensible, fantasievolle, nachdenkliche Minuten und die Erkenntnis: Tanz ohne Körperkontakt – geht doch. Geht verdammt gut. Nur das Leben hinkt noch hinterher.
Infos zu Terminen mit Restkarten: Tel. (0681) 30 92 486.