Ein saarländischer Vater sucht verzweifelt nach seiner Tochter
Ein Jahr ohne Lebenszeichen: Andreas Zins sucht nicht nur seine Tochter Nenja, sondern auch deren Mutter. Sie lebten in St. Ingbert.
Familienrechtler müssen hartgesotten sein. Auch der Saarbrücker Rechtsanwalt Jens Barthel hat viel erlebt und noch mehr gesehen. Doch dieses Bild brannte sich ihm nicht nur emotional ein, es wurde auch prozessrelevant: Am 23. September 2017 machte sich auf einem Flur des Amtsgerichtes St. Ingbert ein dreijähriges Mädchen selbstständig. Es löste sich von seiner Mutter, drückte sich durch die Beine der Erwachsenen, kämpfte sich durch – bis in die Arme des Vaters. Für den Richter war dieses Verhalten offensichtlich einer der Gründe, dem Vater das alleinige Sorgerecht für seine Tochter Nenja zuzusprechen. Die Flur-Situation wird im Beschluss erwähnt. Auch Nenjas Vater erzählt von dieser Begebenheit, in überraschend sachlichem Ton, wie er ihn während des gesamten langen Interviews halten wird. Obwohl er eine aufwühlende, eine filmreife Geschichte erzählt: Seit mehr als einem Jahr sucht er seine Tochter, es gibt kein Lebenszeichen mehr von Nenja. Von ihr und ihrer Mutter Teresa (Name von Red. geändert) fehlt seit 6. September 2019 jede Spur.
Allerdings ist dies keines der üblichen Kino-Familien-Dramen, die sich vorzugsweise im islamischen Milieu abspielen. Diese Variante von Kindesentzug, wie es im Amtsdeutsch heißt, spielt in einem von außen betrachtet intakten, bürgerlichen Milieu: Andreas Zins (42) ist Software-Entwickler einer Saarbrücker IT-Firma, Teresa (49) war bis 2016 Grundschullehrerin. Ehebeginn 2010, nach fünf Jahren Krise, nach sechs Jahren Schluss, 2017 Scheidung. Ohne Dramawahnsinn. Zins ging zurück zu seinen Eltern nach Bliesmengen-Bolchen, sie zog nach St. Ingbert. Nach anfänglichen Streitereien über Umgangs- und Sorgerecht beruhigte sich die Situation. Nenja lebte bei ihrer Mutter, die wieder geheiratet hatte, Zins sah seine Tochter an drei Wochenenden im Monat. Alles gut, dachte sich auch Barthel, bis er bei einem Anruf bei Zins vom Verschwinden des Kindes erfuhr: „Ich war schockiert, ich dachte, wir hätten was Gutes für Nenja erreicht.“Stattdessen fand er sich zusammen mit Zins in einer „Katastrophe“wieder. Das ist die persönliche Formulierung des Juristen für das, was in den unzähligen Schriftstücken saarländischer Gerichte, in
Polizeiakten, Schreiben an das Bundesamt für Justiz und das französische Justizministerium mit „Entziehung Minderjähriger“bezeichnet wird. Laut Landespolizeipräsidium gelten im Saarland aktuell zwölf Kinder im Sinne des Strafrechts-Paragraphen 235 als vermisst, bundesweit wurden im vergangenen Jahr 377 Fälle von Kindesentführung gemeldet. Nenja ist also kein Einzelfall, aber ihr Schicksal scheint dennoch singulär. Weil es bei ihr für Nachforschung und -verfolgung kaum Anhaltspunkte gab: keine Familie, zu der Nenjas Mutter hätte aufbrechen können, keine Freunde, denen Pläne und Aufenthalt bekannt sein könnten. Laut Zins pflegte seine Ex-Frau weder in ihre alte Heimat Frankfurt noch hier im Saarland soziale Kontakte. Barthel sagt: „Das Untypische ist das totale Verschwinden. Die Mutter muss über Monate alles perfekt vorbereitet haben.“Die Rekonstruktion sieht wie folgt aus: Teresa meldete sich und ihre Tochter am 1.
September 2019 bei der Gemeinde in St. Ingbert ab, löste ihr Bankonto auf, löschte Handynummer und E-Mail-Adressen. Nachbarn beobachteten um Anfang September Umzugsund Entrümpelungs-Aktivitäten. Dann holte Teresa ihre Tochter vom Kindergarten ab. Das war’s.
Derweil häuften und häufen sich die Akten in der Wohnung von Zins. Bestens geordnet wird er viele davon an die Redaktion schicken, dazu eine mehrseitige Auflistung von Lebens-, Ehe- und Tathergangs-Daten. Alles korrekt – aber nichts ist in Ordnung.
Andreas Zins ist allein. Nicht nur mit seiner Trauer und mit seiner Sehnsucht, sondern auch mit Ängsten. „Ich fürchte, dass meine Frau Nenja in ihre Krankheit mit hineinzieht. Was mir aber am meisten Sorgen macht, ist, dass Nenja womöglich kein Zuhause hat, dass ihre Mutter von Ort zu Ort zieht, damit man sie nicht findet.“Nenja, heimatlos, welch eine bedrückende Vorstellung.
Das Untertauchen ist ihrer Mutter Teresa offensichtlich hervorragend gelungen, trotz staatsanwaltlicher Ermittlungen, Beauftragung einer Detektei und einer von Zins veranlassten „Grenzsperre“für den Schengener Raum. Zins sagt, Teresa habe genügend Geld aus einer Erbschaft, um sich durchzuschlagen, spreche fließend „Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Arabisch und Hebräisch“und verfüge weltweit, vor allem im Nahen Osten, über ein Netzwerk, weil sie dort in der Entwicklungshilfe tätig war. Dass Nenja und ihrer Mutter etwas zugestoßen sein könnte, oder dass Teresa sich selbst etwas antun könnte – auf solch ungeheuerliche Vorstellungen, die die Interviewerin an ihn heranträgt, reagiert Zins mit heroischer Zurückgenommenheit. Ein schüchtern wirkender Mann, konservative Kleidung, brave Frisur. Es muss ein gigantischer Schritt für ihn gewesen sein, zu dem er sich im August diesen Jahres entschloss: Zins suchte die größtmögliche, die Welt-Öffentlichkeit, schaltete die Webseite „Search Nenja Zins – Verzweifelter Vater bittet um Hilfe“frei. Bisher ohne relevante Rückmeldung. Nun soll zusätzlich die Saarbrücker Zeitung helfen, womöglich doch noch im Saarland Hinweise zu finden.
Auf der Webseite gibt Zins viel Privatheit preis, verbreitet auch Unschmeichelhaftes über den Charakter seiner Exfrau. Rechtsbeistand Barthel hat Zins nicht davon abgeraten: „Warum nicht Kommissar Zufall mit einbinden? Mein Mandant hat nichts mehr zu verlieren, es ist der letzte Strohhalm.“Wobei Zins mit der Webseite mehr bezweckt als eine möglichst breite Fahndung: Er streckt mit der Webseite auch die Arme nach Nenja aus: „Wenn sie älter wird, soll sie, wenn sie ihren Namen eingibt, auf die Seite stoßen“, sagt er.
Wie kam es nur so weit, warum ist das alles passiert? Zins mutmaßt: „Der 23. September muss ein Schock für meine Ex-Frau gewesen sein, als man ihr das Sorgerecht wegnahm“. Das Oberlandesgericht hob dieses Urteil zwar auf, es kam wieder zu einem gemeinsamen Sorgerecht, und es stellte sich Entspannung ein. Heute fühlt sich Zins dadurch getäuscht, glaubt, dass Teresa ihm die Kooperationsbereitschaft, die sie 2019 plötzlich zeigte, nur vorspielte: „Sie wollte mich in Sicherheit wiegen.“Zins betont, er selbst habe nie versucht, Nenja ihrer Mutter wegzunehmen. Auch Rechtsanwalt Barthel, der Schlimmes gewöhnt ist, wenn er Umgangsregelungen für Kinder finden muss, sagt: „Wir haben alles mit Maß und Ziel gemacht“. In der Trennungsphase 2016 sei Zins erstmals zu ihm gekommen, ein „vernünftiger Mann“: „Er wollte einfach nur sein Kind sehen.“Das letzte Mal war das am 26. August 2019, als Zins Nenja nach einem gemeinsamen Wochenende in den Kindergarten brachte. Unspektakulär verliefen diese Tage, mit Besuch des Bebelsheimer Grenzlandhofes im Bliesgau. Kühe, Islandpferde, Familienspaß. Ein geborgenes, zufriedenes Kind.
Selbst diese Erinnerung ruft Zins gefasst auf, und es scheint mitunter so, als wolle er sich für all das entschuldigen, was ihm da widerfahren ist. Gründe dafür sucht er schon lange nicht mehr, Schuldige auch nicht. Nur noch seine Tochter.