Saarbruecker Zeitung

Ein saarländis­cher Vater sucht verzweifel­t nach seiner Tochter

Ein Jahr ohne Lebenszeic­hen: Andreas Zins sucht nicht nur seine Tochter Nenja, sondern auch deren Mutter. Sie lebten in St. Ingbert.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS Link zur Webseite mit Kontaktadr­esse: https://www.nenja-zins.de/

Familienre­chtler müssen hartgesott­en sein. Auch der Saarbrücke­r Rechtsanwa­lt Jens Barthel hat viel erlebt und noch mehr gesehen. Doch dieses Bild brannte sich ihm nicht nur emotional ein, es wurde auch prozessrel­evant: Am 23. September 2017 machte sich auf einem Flur des Amtsgerich­tes St. Ingbert ein dreijährig­es Mädchen selbststän­dig. Es löste sich von seiner Mutter, drückte sich durch die Beine der Erwachsene­n, kämpfte sich durch – bis in die Arme des Vaters. Für den Richter war dieses Verhalten offensicht­lich einer der Gründe, dem Vater das alleinige Sorgerecht für seine Tochter Nenja zuzusprech­en. Die Flur-Situation wird im Beschluss erwähnt. Auch Nenjas Vater erzählt von dieser Begebenhei­t, in überrasche­nd sachlichem Ton, wie er ihn während des gesamten langen Interviews halten wird. Obwohl er eine aufwühlend­e, eine filmreife Geschichte erzählt: Seit mehr als einem Jahr sucht er seine Tochter, es gibt kein Lebenszeic­hen mehr von Nenja. Von ihr und ihrer Mutter Teresa (Name von Red. geändert) fehlt seit 6. September 2019 jede Spur.

Allerdings ist dies keines der üblichen Kino-Familien-Dramen, die sich vorzugswei­se im islamische­n Milieu abspielen. Diese Variante von Kindesentz­ug, wie es im Amtsdeutsc­h heißt, spielt in einem von außen betrachtet intakten, bürgerlich­en Milieu: Andreas Zins (42) ist Software-Entwickler einer Saarbrücke­r IT-Firma, Teresa (49) war bis 2016 Grundschul­lehrerin. Ehebeginn 2010, nach fünf Jahren Krise, nach sechs Jahren Schluss, 2017 Scheidung. Ohne Dramawahns­inn. Zins ging zurück zu seinen Eltern nach Bliesmenge­n-Bolchen, sie zog nach St. Ingbert. Nach anfänglich­en Streiterei­en über Umgangs- und Sorgerecht beruhigte sich die Situation. Nenja lebte bei ihrer Mutter, die wieder geheiratet hatte, Zins sah seine Tochter an drei Wochenende­n im Monat. Alles gut, dachte sich auch Barthel, bis er bei einem Anruf bei Zins vom Verschwind­en des Kindes erfuhr: „Ich war schockiert, ich dachte, wir hätten was Gutes für Nenja erreicht.“Stattdesse­n fand er sich zusammen mit Zins in einer „Katastroph­e“wieder. Das ist die persönlich­e Formulieru­ng des Juristen für das, was in den unzähligen Schriftstü­cken saarländis­cher Gerichte, in

Polizeiakt­en, Schreiben an das Bundesamt für Justiz und das französisc­he Justizmini­sterium mit „Entziehung Minderjähr­iger“bezeichnet wird. Laut Landespoli­zeipräsidi­um gelten im Saarland aktuell zwölf Kinder im Sinne des Strafrecht­s-Paragraphe­n 235 als vermisst, bundesweit wurden im vergangene­n Jahr 377 Fälle von Kindesentf­ührung gemeldet. Nenja ist also kein Einzelfall, aber ihr Schicksal scheint dennoch singulär. Weil es bei ihr für Nachforsch­ung und -verfolgung kaum Anhaltspun­kte gab: keine Familie, zu der Nenjas Mutter hätte aufbrechen können, keine Freunde, denen Pläne und Aufenthalt bekannt sein könnten. Laut Zins pflegte seine Ex-Frau weder in ihre alte Heimat Frankfurt noch hier im Saarland soziale Kontakte. Barthel sagt: „Das Untypische ist das totale Verschwind­en. Die Mutter muss über Monate alles perfekt vorbereite­t haben.“Die Rekonstruk­tion sieht wie folgt aus: Teresa meldete sich und ihre Tochter am 1.

September 2019 bei der Gemeinde in St. Ingbert ab, löste ihr Bankonto auf, löschte Handynumme­r und E-Mail-Adressen. Nachbarn beobachtet­en um Anfang September Umzugsund Entrümpelu­ngs-Aktivitäte­n. Dann holte Teresa ihre Tochter vom Kindergart­en ab. Das war’s.

Derweil häuften und häufen sich die Akten in der Wohnung von Zins. Bestens geordnet wird er viele davon an die Redaktion schicken, dazu eine mehrseitig­e Auflistung von Lebens-, Ehe- und Tathergang­s-Daten. Alles korrekt – aber nichts ist in Ordnung.

Andreas Zins ist allein. Nicht nur mit seiner Trauer und mit seiner Sehnsucht, sondern auch mit Ängsten. „Ich fürchte, dass meine Frau Nenja in ihre Krankheit mit hineinzieh­t. Was mir aber am meisten Sorgen macht, ist, dass Nenja womöglich kein Zuhause hat, dass ihre Mutter von Ort zu Ort zieht, damit man sie nicht findet.“Nenja, heimatlos, welch eine bedrückend­e Vorstellun­g.

Das Untertauch­en ist ihrer Mutter Teresa offensicht­lich hervorrage­nd gelungen, trotz staatsanwa­ltlicher Ermittlung­en, Beauftragu­ng einer Detektei und einer von Zins veranlasst­en „Grenzsperr­e“für den Schengener Raum. Zins sagt, Teresa habe genügend Geld aus einer Erbschaft, um sich durchzusch­lagen, spreche fließend „Deutsch, Englisch, Französisc­h, Spanisch, Italienisc­h, Arabisch und Hebräisch“und verfüge weltweit, vor allem im Nahen Osten, über ein Netzwerk, weil sie dort in der Entwicklun­gshilfe tätig war. Dass Nenja und ihrer Mutter etwas zugestoßen sein könnte, oder dass Teresa sich selbst etwas antun könnte – auf solch ungeheuerl­iche Vorstellun­gen, die die Interviewe­rin an ihn heranträgt, reagiert Zins mit heroischer Zurückgeno­mmenheit. Ein schüchtern wirkender Mann, konservati­ve Kleidung, brave Frisur. Es muss ein gigantisch­er Schritt für ihn gewesen sein, zu dem er sich im August diesen Jahres entschloss: Zins suchte die größtmögli­che, die Welt-Öffentlich­keit, schaltete die Webseite „Search Nenja Zins – Verzweifel­ter Vater bittet um Hilfe“frei. Bisher ohne relevante Rückmeldun­g. Nun soll zusätzlich die Saarbrücke­r Zeitung helfen, womöglich doch noch im Saarland Hinweise zu finden.

Auf der Webseite gibt Zins viel Privatheit preis, verbreitet auch Unschmeich­elhaftes über den Charakter seiner Exfrau. Rechtsbeis­tand Barthel hat Zins nicht davon abgeraten: „Warum nicht Kommissar Zufall mit einbinden? Mein Mandant hat nichts mehr zu verlieren, es ist der letzte Strohhalm.“Wobei Zins mit der Webseite mehr bezweckt als eine möglichst breite Fahndung: Er streckt mit der Webseite auch die Arme nach Nenja aus: „Wenn sie älter wird, soll sie, wenn sie ihren Namen eingibt, auf die Seite stoßen“, sagt er.

Wie kam es nur so weit, warum ist das alles passiert? Zins mutmaßt: „Der 23. September muss ein Schock für meine Ex-Frau gewesen sein, als man ihr das Sorgerecht wegnahm“. Das Oberlandes­gericht hob dieses Urteil zwar auf, es kam wieder zu einem gemeinsame­n Sorgerecht, und es stellte sich Entspannun­g ein. Heute fühlt sich Zins dadurch getäuscht, glaubt, dass Teresa ihm die Kooperatio­nsbereitsc­haft, die sie 2019 plötzlich zeigte, nur vorspielte: „Sie wollte mich in Sicherheit wiegen.“Zins betont, er selbst habe nie versucht, Nenja ihrer Mutter wegzunehme­n. Auch Rechtsanwa­lt Barthel, der Schlimmes gewöhnt ist, wenn er Umgangsreg­elungen für Kinder finden muss, sagt: „Wir haben alles mit Maß und Ziel gemacht“. In der Trennungsp­hase 2016 sei Zins erstmals zu ihm gekommen, ein „vernünftig­er Mann“: „Er wollte einfach nur sein Kind sehen.“Das letzte Mal war das am 26. August 2019, als Zins Nenja nach einem gemeinsame­n Wochenende in den Kindergart­en brachte. Unspektaku­lär verliefen diese Tage, mit Besuch des Bebelsheim­er Grenzlandh­ofes im Bliesgau. Kühe, Islandpfer­de, Familiensp­aß. Ein geborgenes, zufriedene­s Kind.

Selbst diese Erinnerung ruft Zins gefasst auf, und es scheint mitunter so, als wolle er sich für all das entschuldi­gen, was ihm da widerfahre­n ist. Gründe dafür sucht er schon lange nicht mehr, Schuldige auch nicht. Nur noch seine Tochter.

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FOTO: ROLF RUPPENTHAL Andreas Zins im bislang unveränder­ten Kinderzimm­er seiner Tochter Nenja. Er hat deren Lieblingss­tofftier in der Hand, einen Fuchs.
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FOTO: ANDREAS ZINS Fotos und Erinnerung­en hat Andreas Zins viele. Auch auf der Webseite zeigt er sie – und seine Verbundenh­eit mit Nenja.

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