Saarbruecker Zeitung

Wenn das Geschlecht in der Politik kein Thema ist

PORTRÄT Belgiens neue Vize-Premiermin­isterin Petra De Sutter war früher ein Mann – und ist heute stolz, dass das bei ihrer Ernennung keine Rolle spielte.

- VON MARKUS GRABITZ

Es war den belgischen Medien keine Erwähnung wert, dass die neue stellvertr­etende Ministerpr­äsidentin des Landes früher ein Mann war. Die 57-jährige Grünen-Politikeri­n Petra De Sutter ist in Belgien eben Petra De Sutter. Und es sind jetzt vor allem die ausländisc­hen Medien, die betonen, dass die frühere Europaabge­ordnete nun weltweit die Transgende­r-Person mit dem höchsten öffentlich­en Amt ist.

Nachdem De Sutter vor König Philippe den Amtseid abgelegt hatte, twitterte sie: „Ich bin stolz, dass dich in Belgien und einem Großteil Europas nicht die geschlecht­liche Identität als Person definiert, sondern vielmehr ein Nicht-Thema ist.“Bis zu ihrer Berufung als Vize-Premier und Ministerin für die öffentlich­en Unternehme­n und die Beamten leitete sie den einflussre­ichen Ausschuss für den EU-Binnenmark­t und Verbrauche­rschutz im Europa-Parlament. Abgeordnet­enkollegen und Mitarbeite­r berichten, dass De Sutter souverän die Geschäfte geführt und sich im persönlich­en Umgang durch große Fröhlichke­it und Menschlich­keit ausgezeich­net habe.

In einem langen Interview mit der belgischen Tageszeitu­ng De Morgen bekannte De Sutter vor drei Jahren: „Ich bin heute so glücklich, dass ich eigentlich sterben könnte.“Das war nicht immer so. Als Kind besuchte De Sutter eine Jungenschu­le und wurde dort viel gemobbt. Der Vater, ein Richter, versuchte immer, aus seinem Kind einen richtigen Jungen zu machen. De Sutter verkroch sich, stürzte sich in Bücher, spielte Querflöte und Cello, hörte klassische Musik, vor allem Bach, und Pink Floyd. Dann studierte De Sutter Medizin in Gent, wurde Gynäkologe, Spezialist für Fortpflanz­ungsmedizi­n und Professor an der Universitä­t Gent. Mit 40 wurde die persönlich­e Krise so groß – schwere Depression­en, sogar Gedanken an Suizid –, dass die Entscheidu­ng zur Geschlecht­sumwandlun­g fiel. Danach ging sie in die Politik. Über ihre Entscheidu­ng habe sie viele Freunde und Bekannte verloren, berichtete sie einmal. Die Universitä­t sowie ihre Patientinn­en hätten aber immer zu ihr gehalten.

Als sie ihren Eltern ihre Entscheidu­ng mitteilte, habe sich ihr Vater mit einschlägi­ger Literatur eingedeckt und für eine Woche zurückgezo­gen. Danach habe er ihr gesagt, dass er sie nun verstehen könne. Vor drei Jahren sagte sie: „Die Umwandlung spielt im Verhältnis zu meinen Eltern keine Rolle mehr.“Gerade in den Monaten seit Beginn der Covid-Krise, die in der ersten Welle in Belgien für hohe Opferzahle­n sorgte, war De Sutter, die mit einer Frau zusammenle­bt, in Belgien sehr präsent als Gesundheit­sexpertin.

De Sutter ist die höchste Repräsenta­ntin der belgischen Grünen in der neuen Regierung unter Führung des Liberalen Alexander De Croo. Sieben Parteien sind in die neue Koalition einbezogen, die erst knapp 500 Tage nach den Wahlen gebildet wurde. An der Regierung sind die Liberalen, Grünen und Sozialiste­n – jeweils aus beiden Landesteil­en – beteiligt sowie die Christdemo­kraten aus Flandern. Als Ministerin ist De Sutter für rund 80 000 Beamte zuständig, die meisten arbeiten bei den beiden großen Staatsbetr­ieben Post und Telekom. In einem ihrer ersten Fernseh-Interviews im neuen Job sagte die Flämin in beeindruck­endem Französisc­h zum Moderator: „Es wird Sie nicht überrasche­n, dass ich als Linke eine Privatisie­rung sehr kritisch sehe.“

Es sagt einiges über die Toleranz der belgischen Gesellscha­ft aus, dass sie allein wegen ihrer politische­n und persönlich­en Qualitäten in das Amt berufen wurde. Wie stolz sie darauf ist, macht sie deutlich mit dem neuen Foto über ihrem Twitter-Account: Da ist sie zu sehen, im schwarzen Hosenanzug direkt neben dem Premier, im Zentrum des frisch vereidigte­n Kabinetts.

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FOTO: GYS/AP Petra De Sutter, die grüne Vize-Regierungs­chefin im neuen belgischen Kabinett, war zuvor Europaabge­ordnete.

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