Philosoph und Armutsforscher Sen bekommt Friedenspreis
(epd) Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind die Themen des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen, der am 18. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Der 86-jährige Ökonom und Philosoph blickt weit über die Grenzen dieser Disziplinen hinaus. Als Ökonom kritisierte er, Wohlstand allein am Wirtschaftswachstum zu messen. Und nahm sich in glasklaren Analysen die Ursachen von Hunger, Armut und Ungleichheit vor: den Mangel an Freiheit, an Demokratie, freien Medien und Lebenschancen.
Als Philosoph tritt Amartya Sen der Ideologie vom Kampf der Kulturen entgegen. Sen warnt davor, Menschen auf eine einzige Kategorie zu reduzieren, „sich gegenseitig unverrückbar in enge Schubladen zu stecken“, sei es nach Religion, Kultur oder
Herkunft. „Ein Identitätsgefühl kann eine Quelle nicht nur von Stolz und Freude, sondern auch von Kraft und Selbstvertrauen sein“, räumt er ein. „Und dennoch kann Identität auch töten.“Sen spricht von einer „Identitätsfalle“, die sich Brandstifter („Fachleute des Terrors“) für ihre Zwecke zunutze machten.
Dass jeder Mensch viele Identitäten hat, verdeutlicht der in den USA lebende Forscher an sich selbst: Mann, Feminist, Inder, Bengale mit Vorfahren in Bangladesch, Ökonom, Amateur-Philosoph, Autor, Sanskrit-Kenner, überzeugter Demokrat, Heterosexueller, Nicht-Brahmane und Hindu mit nichtreligiösem Lebensstil.
Wie Hass und Gewalt plötzlich ausbrechen können, hat Sen in seiner Heimat Bengalen erlebt, wo er am 3. November 1933 geboren wurde. Im Streit über die Teilung des nach Unabhängigkeit strebenden Indien kam es in den 1940er-Jahren zu blutigen Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen. „Ich weiß noch, wie schnell sich die Menschen, die sich im Januar noch kaum voneinander unterschieden, in die grausamen Hindus und die bösen Muslime vom Juli verwandelten.“
Einer Analyse unterzog Sen auch die Hungersnot in Bengalen 1943, bei der zwei bis drei Millionen Menschen starben. Aber er als Sohn einer Akademikerfamilie bekam er kaum etwas von der Not mit, die ausschließlich die Armen traf. Sen wies nach, dass in Bengalen damals keine Knappheit herrschte, sondern Preistreiberei, Panikkäufe und massive Aufkäufe der britischen Kolonialherren.
Sens Arbeiten trugen wesentlich zur Konzeption des Human Development Index (HDI) bei, der vom UN-Entwicklungsprogramm 1990 als Maßstab für Lebensqualität vorgestellt wurde und längst allgemein akzeptiert ist. Zentral dabei ist, dass nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch Bildung und Lebenserwartung der Bevölkerung gemessen werden. Seine Arbeiten zu Wohlfahrtsökonomie, Sozialwahltheorie und Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung trugen ihm 1998 den Wirtschaftsnobelpreis ein. Der nach ihm benannte Sen-Index misst die Ungleichheit in einer Nation.
Ohne Markt ist für Sen keine Schaffung von Wohlstand denkbar. Zugleich betont er: „Märkte allein funktionieren nicht und können nicht funktionieren.“In ähnlicher Weise befürwortet er die Globalisierung, die allerdings sozial gestaltet werden müsse. Um Armut und Ungleichheit zu bekämpfen, sei es nicht hilfreich, auf internationale Wirtschaftsbeziehungen und den Austausch von Wissen und Technologie zu verzichten, hält er Globalisierungsgegnern vor.