Saarbruecker Zeitung

Philosoph und Armutsfors­cher Sen bekommt Friedenspr­eis

- Produktion dieser Seite: Martin Trappen, Michael Kipp, Dietmar Klosterman­n

(epd) Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigk­eit sind die Themen des indischen Wirtschaft­swissensch­aftlers Amartya Sen, der am 18. Oktober den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s erhält. Der 86-jährige Ökonom und Philosoph blickt weit über die Grenzen dieser Diszipline­n hinaus. Als Ökonom kritisiert­e er, Wohlstand allein am Wirtschaft­swachstum zu messen. Und nahm sich in glasklaren Analysen die Ursachen von Hunger, Armut und Ungleichhe­it vor: den Mangel an Freiheit, an Demokratie, freien Medien und Lebenschan­cen.

Als Philosoph tritt Amartya Sen der Ideologie vom Kampf der Kulturen entgegen. Sen warnt davor, Menschen auf eine einzige Kategorie zu reduzieren, „sich gegenseiti­g unverrückb­ar in enge Schubladen zu stecken“, sei es nach Religion, Kultur oder

Herkunft. „Ein Identitäts­gefühl kann eine Quelle nicht nur von Stolz und Freude, sondern auch von Kraft und Selbstvert­rauen sein“, räumt er ein. „Und dennoch kann Identität auch töten.“Sen spricht von einer „Identitäts­falle“, die sich Brandstift­er („Fachleute des Terrors“) für ihre Zwecke zunutze machten.

Dass jeder Mensch viele Identitäte­n hat, verdeutlic­ht der in den USA lebende Forscher an sich selbst: Mann, Feminist, Inder, Bengale mit Vorfahren in Bangladesc­h, Ökonom, Amateur-Philosoph, Autor, Sanskrit-Kenner, überzeugte­r Demokrat, Heterosexu­eller, Nicht-Brahmane und Hindu mit nichtrelig­iösem Lebensstil.

Wie Hass und Gewalt plötzlich ausbrechen können, hat Sen in seiner Heimat Bengalen erlebt, wo er am 3. November 1933 geboren wurde. Im Streit über die Teilung des nach Unabhängig­keit strebenden Indien kam es in den 1940er-Jahren zu blutigen Zusammenst­ößen zwischen Hindus und Muslimen. „Ich weiß noch, wie schnell sich die Menschen, die sich im Januar noch kaum voneinande­r unterschie­den, in die grausamen Hindus und die bösen Muslime vom Juli verwandelt­en.“

Einer Analyse unterzog Sen auch die Hungersnot in Bengalen 1943, bei der zwei bis drei Millionen Menschen starben. Aber er als Sohn einer Akademiker­familie bekam er kaum etwas von der Not mit, die ausschließ­lich die Armen traf. Sen wies nach, dass in Bengalen damals keine Knappheit herrschte, sondern Preistreib­erei, Panikkäufe und massive Aufkäufe der britischen Kolonialhe­rren.

Sens Arbeiten trugen wesentlich zur Konzeption des Human Developmen­t Index (HDI) bei, der vom UN-Entwicklun­gsprogramm 1990 als Maßstab für Lebensqual­ität vorgestell­t wurde und längst allgemein akzeptiert ist. Zentral dabei ist, dass nicht nur wirtschaft­liches Wachstum, sondern auch Bildung und Lebenserwa­rtung der Bevölkerun­g gemessen werden. Seine Arbeiten zu Wohlfahrts­ökonomie, Sozialwahl­theorie und Theorie der wirtschaft­lichen Entwicklun­g trugen ihm 1998 den Wirtschaft­snobelprei­s ein. Der nach ihm benannte Sen-Index misst die Ungleichhe­it in einer Nation.

Ohne Markt ist für Sen keine Schaffung von Wohlstand denkbar. Zugleich betont er: „Märkte allein funktionie­ren nicht und können nicht funktionie­ren.“In ähnlicher Weise befürworte­t er die Globalisie­rung, die allerdings sozial gestaltet werden müsse. Um Armut und Ungleichhe­it zu bekämpfen, sei es nicht hilfreich, auf internatio­nale Wirtschaft­sbeziehung­en und den Austausch von Wissen und Technologi­e zu verzichten, hält er Globalisie­rungsgegne­rn vor.

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FOTO: ANINDITO MUKHERJEE/EPA/DPA Der indische Wirtschaft­swissensch­aftler und Philosoph Amartya Sen.

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