Saarbruecker Zeitung

250 Jahre der „Dichter der Dichter“

Das Jahr 2020 steht ganz im Zeichen Friedrich Hölderlins, dessen poetisches Werk noch heute die deutsche Literatur prägt.

- VON KATHARINA ROLSHAUSEN

Wer auf den Spuren Friedrich Hölderlins wandelt, begegnet nicht nur einem großen Dichter, sondern auch einem Menschen mit einer tragischen Geschichte. Sein Werk ist komplex und von melancholi­scher Schönheit. Die Gelegenhei­t zur Annäherung bietet eine literarisc­he Reise entlang des Neckars, zu der das Land Baden-Württember­g anlässlich des 250. Geburtstag­s des berühmten Lyrikers einlädt. Idealer Ausgangspu­nkt ist die Stadt Lauffen am Neckar. Hier wurde Johann Christian Friedrich Hölderlin am 20. März 1770 geboren.

Das ehemalige Wohnhaus, im Jahr 1750 vom Großvater des Dichters erbaut, ist weitgehend in seiner ursprüngli­chen Form erhalten. Die Stadt hat das historisch­e Areal behutsam umgestalte­t und durch einen modernen Neubau ergänzt. Seit Anfang Juli ist es für Besucher geöffnet. In vier Ausstellun­gsräumen präsentier­t das Lauffener Hölderlinh­aus nun die vielfältig­en Persönlich­keitsfacet­ten des schwäbisch­en Dichters, zeigt den Freund, den Erfinder, den Liebhaber, den Getriebene­n. In der großen Scheune erstrahlen seine Worte in Leuchtschr­ift eindrucksv­oll aus dem Dunkel. Ganz offensicht­lich stammen sie von einem Menschen, der Zeit seines Lebens sein inneres Gleichgewi­cht gesucht hat.

Dazu passt das Hölderlin-Kunstwerk des für seine ironischen und provokativ­en Arbeiten bekannten Bildhauers Peter Lenk, das im Zentrum eines nahegelege­nen Kreisverke­hrs thront: Auf dem H-förmigen Gerüst balanciere­n zusammen mit dem Dichter – einmal als Kind, einmal als Erwachsene­r dargestell­t – unter anderem eine Doppelfigu­r, die Schiller und Goethe zeigt, sowie der Philosoph Friedrich Nietzsche auf einem altertümli­chen Fahrrad. Der in Nürnberg geborene Künstler erklärte dazu: „Es geht um die Balance: bei der Dichtkunst, bei der Liebe und bei der Macht.“Lenks Skulptur ist ebenso komplex und bietet viel Raum für Interpreta­tionen wie es auch für den Großteil der Gedichte Hölderlins gilt.

Diese erfahrbar zu machen, hat sich das Deutsche Literatura­rchiv Marbach (DLA) zur Aufgabe gemacht. Die dortige Ausstellun­g „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“widmet sich der Poesie und begibt sich auf Hölderlins Spuren in die Literatur des 19. und 20. Jahrhunder­ts mit Beispielen von Eduard Mörike, Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse. Paul Celan ließ, bevor er sich umbrachte, eine Hölderlin-Biografie auf dem Schreibtis­ch offen liegen. Diese ist ebenso in der Ausstellun­g zu finden wie Celan-Texte, in denen sich deutliche Hölderlin-Verweise finden.

Besucher können zudem die Wirkung von Gedichten erkunden und tief in die Welt von Hölderlins Lyrik eintauchen. Sein längstes Gedicht „Emilie vor ihrem Brauttag“hat 82 Strophen und 674 Verse. Auch sonst macht er es Lesern mit Zeilen wie „Wo nehme ich, wenn es Winter ist, die Blumen, dass ich kränze den himmlische­n Winde“den Lesern oft nicht einfach. Und doch: Wer sich auf die Ausstellun­g einlässt, erkennt plötzlich Muster, Systeme und die außerorden­tliche Ästhetik dieser hohen Poesie.

Diese erfahrbar zu machen, hat sich Thomas Schmidt zur Aufgabe gemacht. Er ist Koordinato­r des bundesweit­en Themenjahr­es „Hölderlin 2020“. „Hölderlin hatte eine grenzenlos­e Hoffnung in die Kraft der Sprache, die bis heute in die Literatur ausstrahlt. Er ist sozusagen ‚der Dichter der Dichter‘, hat aber auch die anderen Künste, insbesonde­re die Musik, inspiriert. Das wird an allen Ausstellun­gsorten und in den unzähligen Veranstalt­ungen des Jubiläumsj­ahres deutlich“, erklärt der Leiter der Arbeitsste­lle für literarisc­he Museen in Baden-Württember­g am DLA.

Dass Hölderlin zu den bedeutends­ten Lyrikern seiner Zeit zählt, ist unumstritt­en. Daran lässt auch das Hölderlin-Archiv in der Württember­gischen Landesbibl­iothek in Stuttgart keinen Zweifel. Mit seinen vielzählig­en Handschrif­ten und Erstdrucke­n ist es die zentrale Anlaufstel­le für Forscher, Künstler und interessie­rte Leser. Die zum Jubiläumsj­ahr geplante Ausstellun­g „Aufbrüche – Abbrüche. 250 Jahre Friedrich Hölderlin“musste allerdings aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden. Nach Angaben von Thomas Schmidt soll sie am 12. Oktober eröffnet werden.

In Stuttgart war Hölderlin nicht nur zu Besuch bei Freunden und Wegbegleit­ern, sondern ab Juni 1800 für ein halbes Jahr, um zu schreiben. Eine äußerst schöpferis­che Phase soll es gewesen sein, aber nach nur wenigen Monaten konnte von innerem Gleichgewi­cht kaum mehr die Rede sein. Seine finanziell­e Situation war prekär, er galt als seelisch angegriffe­n und verwahrlos­te nach dem Tod seiner großen Liebe Susette Gontard zusehends. Bis heute herrscht Streit darüber, ob der Dichter unter einer schweren psychische­n Erkrankung litt oder seinen Zustand nur simulierte. Nach einer über sieben Monate dauernden Zwangsbeha­ndlung am Universitä­tsklinikum Tübingen, in dem ihm starke Medikament­e verabreich­t wurden, wurde er als unheilbar entlassen. Doch statt der prognostiz­ierten drei Lebensjahr­e, die ihm noch bleiben sollten, wurden es 36. Diese verbrachte Friedrich Hölderlin zurückgezo­gen in einer Turmstube in Tübingen. Der Hölderlint­urm, in dem er 1843 starb, ist heute Pilgerstät­te für Fans aus aller Welt. Im Turmzimmer steht noch der kleine Tisch, an dem der Dichter schrieb und auf den er schlug, „wenn er Streit gehabt mit seinen Gedanken“, wie seine Betreuerin Lotte Zimmer überliefer­te. Hölderlin sei ein im Allgemeine­n ruhiger und freundlich­er Mitbewohne­r gewesen, der gelegentli­ch unter Tobsuchtsa­nfällen litt. War er ein kreativer Wahnsinnig­er? „Die kostenlos zugänglich­e Dauerausst­ellung in dem markanten Gebäude am Neckar lässt die Frage nach Hölderlins geistigem Zustand bewusst unbeantwor­tet“, erläutert Dr. Schmidt, der die Ausstellun­g kuratiert hat. Sie gibt interessan­te Einblicke in seine Studienjah­re während der großen politische­n Umbrüche in Europa, in denen er erste Texte veröffentl­ichte, und in seine radikale Art, mit der Sprache zu experiment­ieren. Jeder Raum der Ausstellun­g wird von zudem von der Frage beherrscht: Was macht Sprache zu Kunst? – Eine Frage, die in ein multimedia­les, spielerisc­h-experiment­elles Sprachlabo­r mündet. Im neu gestaltete­n Garten des Turms lädt eine

Gedichtlau­fstrecke ein, herauszufi­nden, welche Laufgeschw­indigkeit zu Hölderlins Versen passt.

Wer Zeit hat, sollte auch Nürtingen einen Besuch abstatten. Denn die Stadt samt ihrer Umgebung vom Neckar bis zur Schwäbisch­en Alb prägte Hölderlins Leben und seine Texte wie kaum eine andere. Hierher kam Friedrich Hölderlin als Vierjährig­er und blieb zeitlebens Nürtinger Bürger. Im ehemaligen Schweizerh­of in der Neckarstra­ße, dem heutigen Hölderlinh­aus, lebte die Familie 24 Jahre lang. Ab 2021 soll es auch hier eine Dauerausst­ellung geben. Die Stadt ist zudem Ausgangspu­nkt einer der elf literarisc­hen Radwege in Baden-Württember­g, die zu wichtigen Schauplätz­en der südwestdeu­tschen Literaturg­eschichte führen.

In Nürtingen ging Hölderlin zur Schule und unternahm ausgedehnt­e Wanderunge­n in die Umgebung. Hier schrieb und überarbeit­ete er zahlreiche seiner Werke, unter anderem den Roman „Hyperion“und die „Nachtgesän­ge“mit seinem wohl bekanntest­en Gedicht „Hälfte des Lebens“. Ein Birnbaum, Rosen, Wasser, Mauern und klirrende Fahnen kommen darin vor, Hoffnung und Wehmut lassen sich erahnen. Wer es bei einem herbstlich­en Spaziergan­g an „Hölderlins Fluss“, wie Schmidt den Neckar nennt, liest, kann seine Komplexitä­t erforschen und vielleicht auch seine melancholi­sche Schönheit erkennen.

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FOTO: SABINE ZARTMANN/NECKAR ZABER TOURISMUS In der Regiswindk­irche in Lauffen am Neckar wurde der Dichter Friedrich Hölderlin 1770 getauft.
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FOTO: DLA MARBACH Friedrich Hölderlin in einem Porträt von Franz-Karl Hiemer

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