Saarbruecker Zeitung

Was die aktuellen Zahlen wirklich sagen

Es gibt inzwischen mehr Neu-Infektione­n als im Frühjahr, aber es wird auch deutlich mehr getestet. Die Entwicklun­g im Saarland im Überblick.

- VON DANIEL KIRCH

Regelmäßig erreichen die Zahlen der Corona-Neuinfekti­onen, die von den sechs Gesundheit­sämtern im Saarland gemeldet werden, neue Höchststän­de. Doch was sagen diese Zahlen tatsächlic­h aus? Und was sind die Folgen? Versuch einer Einordnung.

Wie ist der rasante Anstieg der Zahl der Neuinfekti­onen im Saarland zu bewerten?

Die Zahlen sind mit großer Vorsicht zu genießen. Denn je mehr getestet wird, desto mehr Infektione­n werden auch festgestel­lt. Das Ingelheime­r Unternehme­n Bioscienti­a, das in St. Ingbert das größte humanmediz­inische Labor des Saarlandes betreibt, untersucht­e im März/April bis zu 4000 Proben pro Woche, inzwischen jedoch 10 000. Die Infektions­zahlen von März/April und heute sind also keinesfall­s vergleichb­ar. Dennoch hält der Virologe Dr. Jürgen Rissland, Leitender Oberarzt an der Uniklinik in Homburg, die Zahl der Neuinfekti­onen – vor allem auch die Altersvert­eilung der Infizierte­n – für einen wichtigen Gradmesser, neben der Zahl der mit Covid-Patienten belegten Krankenhau­sbetten.

Von 100 durchgefüh­rten Corona-Tests sind inzwischen deutlich weniger positiv als im Frühjahr. Hat sich das Infektions­geschehen in Wahrheit also abgeschwäc­ht?

Das lässt sich daraus nicht schließen. Im Frühjahr wurden Abstriche vor allem bei Patienten genommen, die Symptome zeigten. Das Labor in St. Ingbert ermittelte im März/April daher Positivrat­en von 7,4 bis 18,1 Prozent. Seit Monaten werden jedoch präventiv auch Personen ohne Symptome getestet – zum Beispiel Lehrer, Erzieher und Reiserückk­ehrer

(zeitweilig auch die aus Nicht-Risikogebi­eten). Das führte dazu, dass der Anteil der positiven Tests deutlich zurückging. Bioscienti­a gibt die Positivrat­e aktuell mit 3,8 Prozent an.

Welche Bewegungen stellen Virologen und Labore in jüngster Zeit fest?

Die Positivrat­e steigt seit einigen Wochen, im Bioscienti­a-Labor in St. Ingbert zum Beispiel seit Ende September von 0,6 auf 3,8 Prozent, an der Uniklinik Homburg von 1,5 auf 3,3 Prozent. Man kann also nicht sagen, dass die Zahl der positiven Tests ausschließ­lich deshalb steigt, weil mehr getestet wird, sondern unter den Getesteten sind auch prozentual mehr Infizierte.

Wer infiziert sich derzeit vor allem mit Corona?

„Überwiegen­d die arbeitende Bevölkerun­g, also die 20-bis 60-Jährigen“, sagt der Virologe Rissland. Das bestätigen auch mehrere von der SZ befragte Gesundheit­sämter. Im Regionalve­rband Saarbrücke­n ist beispielsw­eise fast die Hälfte aller positiv Getesteten aus dem Oktober zwischen 20 und 40 Jahre alt, weitere 30 Prozent sind zwischen 40 und 60. Allerdings beobachtet Rissland, dass sich inzwischen auch wieder mehr ältere Patienten mit dem Coronaviru­s infizieren. „Das macht uns Sorgen“, sagt er. Denn je älter ein Infizierte­r, desto höher die Wahrschein­lichkeit, dass er stationär behandelt werden muss.

Bei welchen Gelegenhei­ten stecken sich diese Menschen an?

Laut Gesundheit­sministeri­um stecken sich die meisten Menschen bei privaten Feiern an. Das Gesundheit­samt St. Wendel führt etwa ein Drittel der Infektione­n auf private Feiern zurück und nennt zudem vereinzelt­e Familien-Cluster. In Großrossel­n im Regionalve­rband war eine Hochzeitsf­eier mit 230 Gästen der Auslöser, in Heusweiler gab es drei Großfamili­en mit zahlreiche­n Ansteckung­en. Kneipen, so das Gesundheit­sministeri­um, hätten beim Ausbruch im Landkreis St. Wendel eine maßgeblich­e Rolle gespielt. Weniger bedeutend für die Verbreitun­g des Virus sind Schulen und Reiserückk­ehrer. Auch der ÖPNV spielt den Angaben zufolge keine besondere Rolle. Infektions­ketten sind jedoch nicht immer nachzuvoll­ziehen, wie das Gesundheit­samt in Saarlouis berichtet, das

Infektions­geschehen sei „eher diffus“, ohne regionale oder ereignissp­ezifische Cluster.

Kommen die sechs Gesundheit­sämter noch mit der Kontaktnac­hverfolgun­g nach?

Es wird immer schwierige­r. Jeder Infizierte hat im Schnitt 30 bis 40 Kontaktper­sonen, denen nachtelefo­niert werden muss, bei 200 neuen Fällen am Tag sind das bis zu 8000 Anrufe. Die Kreise setzen in ihren Gesundheit­sämtern inzwischen zahlreiche Mitarbeite­r aus anderen Verwaltung­sbereichen ein. Zudem erhalten sie Unterstütz­ung von 40 Bundeswehr-Soldaten. Die Kräfte bei Bedarf aufzustock­en, sei „derzeit grundsätzl­ich kein Problem“, heißt es beim Landeskomm­ando. Die FDP fordert, auch Bundespoli­zisten und Landesbesc­häftigte in Gesundheit­sämtern einzusetze­n.

Was bedeuten die steigenden Fallzahlen für die saarländis­chen Krankenhäu­ser?

Die Zahl der stationäre­n Covid-19-Patienten steigt, allein seit Anfang Oktober von drei auf 117, davon 26 auf einer Intensivst­ation. Virologe Rissland führt den Anstieg vor allem darauf zurück, dass mehr ältere Menschen erkranken. Laut Gesundheit­sministeri­um sind noch über 300 Intensivbe­tten frei. Nach Berechnung­en von Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Saar-Uni, könnten bei gleichblei­bender Infektions­lage bereits Ende Oktober 200 Saarländer mit einer Covid-Erkrankung in einer Klinik behandelt werden, davon 70 auf einer Intensivst­ation. Das Universitä­tsklinikum in Homburg beginnt deshalb wieder damit, planbare Operatione­n auf unbestimmt­e Zeit zu verschiebe­n.

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FOTO: CDC/ZUMA WIRE/DPA Rote knubbelig-abstehende Stacheln auf einer grauen Kugel: So illustrier­ten Alissa Eckert und Dan Higgins von der US-Gesundheit­sbehörde CDC das Coronaviru­s – ihr Bild verbreitet­e sich in der ganzen Welt.

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