Saarbruecker Zeitung

Steinmeier: „Rücksichts­losigkeit ist kein Freiheitsr­echt“

- VON WERNER KOLHOFF

Joachim Huber, 62, Medienreda­kteur des Berliner Tagesspieg­el, hat die Corona-Hölle durchgemac­ht. Beatmung, Koma, Muskelschw­und, Nierenvers­agen, Herzinfark­t. Das war im Frühjahr, noch heute ist er nicht vollständi­g genesen. „Corona ist ein Arschloch“, hat Huber danach geschriebe­n. Jetzt zitiert Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier diesen Satz, der eigentlich so gar nicht zu einem Staatsober­haupt passt. Und er lacht, als der per Video zugeschalt­ete Remscheide­r Arzt Heinz-Wilhelm Esser ergänzt: „Corona ist ein dreifaches Arschloch“.

Eineinhalb Stunden nimmt sich

Steinmeier Zeit, um mit Huber, Esser und weiteren drei Corona-Genesenen zu reden und um der Öffentlich­keit zu zeigen, wie schlimm die Krankheit ist. Esser zum Beispiel ist mit 46 noch recht jung und hatte Corona nur bemerkt, weil in seinem Unterschen­kel ein Gefäß entzündet war. Clarissa Engels, 26, berichtet, was ihr nach der Ansteckung bei einer Karnevalsf­eier in Heinsberg passierte: Atemnot, der Verlust von Geruchsund Geschmacks­sinn. Acht Wochen war sie krank. Vor allem das Kurzzeitge­dächtnis ist schwächer geworden. Ähnlich erging es Nadja Alzner, 31, eine der ersten Infizierte­n in Berlin. Nur Popstar Mike Singer, 20, hatte einen leichteren Verlauf. Aber schwer genug, um seine Altersgeno­ssen zu warnen: „Es passiert so schnell“, sagt er.

450 000 Menschen haben Corona bisher in Deutschlan­d durchgemac­ht, nicht gerechnet jene, die die Infektion nicht bemerkt haben. Über 10 000 sind gestorben. „Wir dürfen die Erkrankung nicht unterschät­zen, nicht kleinreden oder gar ausblenden“, sagt Steinmeier. Dass die Veranstalt­ung kurz nach der Leipziger Demonstrat­ion von Corona-Leugnern stattfinde­t, ist Zufall. Steinmeier fragt die Teilnehmer, wie sie über diese Demo denken. Der Arzt Esser sagt, er wünsche sich manchmal, er könne die Leugner durch seine Covid-Stationen führen und ihnen zeigen, wie die Menschen litten und stürben. „Da vergeht denen dann schnell die Unterstell­ung, dass das alles eine große Verschwöru­ng ist.“Huber antwortet noch bitterer. Er spricht nicht nur von „Menschenve­rachtung“, sondern schlägt auch vor, alle Teilnehmer solcher Demos sollten künftig unterschre­iben, dass sie im Fall einer Infektion auf eine Behandlung verzichtet­en. „Schließlic­h gibt es Corona ja angeblich gar nicht.“Steinmeier widerspric­ht milde, das entspreche wohl nicht dem ärztlichen Eid. Auch betont er das Recht auf Demonstrat­ionsfreihe­it. Aber was Leipzig angeht, so ist seine Haltung klar: „Rücksichts­losigkeit ist kein Freiheitsr­echt.“

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FOTO: DPA Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) spricht mit den Corona-Genesenen Nadja Alzner (links) und Joachim Huber über ihre Erkrankung.

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