Weltstar auf Abwegen
Michael Jordan war der erste Popstar des Sports, eine globale Ikone. Doch auf dem Höhepunkt seiner Karriere sagte er 1993 dem Basketball Ade – um sich als Profi im Baseball zu versuchen. Rückblick auf ein skurriles Stück Sportgeschichte.
Während der Finalserie der National Basketball League (NBA) im Frühsommer 1993 läuft ein Werbespot im Fernsehen rauf und runter. Michael Jordan in einer leeren Halle, nur er und der Ball, dazu seine Stimme aus dem Off: „Was, wenn mein Gesicht nicht dauernd im Fernsehen zu sehen wäre? Wenn ich einfach nur ein Basketballspieler wäre? Könnt Ihr Euch das vorstellen? – Ich schon.“Dann der Slogan des Sportartikelherstellers: Just do it.
Tu’s einfach.
Wenige Wochen später macht Jordan Ernst: Der bekannteste Sportler der Welt gibt das Dasein als Basketball-Profi auf.
Am 7. Oktober 1993 berichtet er den ungläubigen Reportern, er habe nach drei Meistertiteln in Folge mit den Chicago Bulls sowie zweimal Olympia-Gold mit den USA „nichts mehr zu beweisen“. Ab in die Frührente also, als 30-Jähriger. „Es wird Zeit, dass ich etwas Zeit mit meiner Familie verbringe“, spricht er in die Mikros. Sport treiben werde er zukünftig nur als Notwehr gegen einen eventuellen Bierbauch. Und stattdessen? „Meistens werde ich zu Hause sitzen und dem Gras beim Wachsen zusehen. Ab und zu werde ich es auch mähen.“
Das nun glaubt dem notorischen Ehrgeizling, der Mitspieler anbrüllte, schubste und schlug, niemand. Deshalb macht Jordans Agent wolkige Andeutungen über dessen diverse Talente. Der Autor Jim Patton kommentiert süffisant: „Wir erwarteten eine Symphonie, ein Buch oder die Bewerbung um ein politisches Amt.“
Stattdessen stellte sich bald heraus, dass Jordan das Unmögliche versuchen würde – eine Karriere in einem zweiten Sport. Als Baseball-Profi. Zwei Buchstaben und Welten vom Basketball entfernt.
Dieser Wechsel der Disziplin war nicht völlig beispiellos in der Sportgeschichte: Die Britin Rebecca Romero zum Beispiel holte Olympia-Medaillen im Rudern und Radfahren, der DDR-Bürgerin Roswitha Krause gelang dasselbe im Schwimmen und Handball. Bo Jackson wurde im Football und Baseball zum All-Star gewählt, Deion Sanders erzielte 1989 sogar innerhalb einer Woche einen NFL-Touchdown (Football) und einen MLB-Homerun (Baseball).
99 Prozent dieser Vorhaben aber sind PRGags von in ihrer Ur-Disziplin längst aussortierten Profis. Man denke an Ex-Fußballtorwart Tim Wiese, der sich nach einem Übermaß an Krafttraining als Muskelmann im Wrestling versucht. Die größten Popstars des Sports kämen nicht mal für eine Sekunde auf die Idee, den Sport, den sie dominieren, freiwillig zu verlassen. Alles spricht dagegen, und nichts dafür.
Deshalb blieb Wayne Gretzky auf dem Eis, Tiger Woods auf dem Grün, Roger Federer hinterm Netz, Michael Schumacher hinterm Steuer, Maradona am Ball. Nicht zu vergessen der dominante Ringer Alexander Karelin (Karriere-Bilanz: 887 Siege und zwei hauchdünne Niederlagen!).
Weshalb also will Michael Jordan die Sportart wechseln? Bis heute halten sich Gerüchte, er sei mit der Aktion einer Sperre durch die NBA wegen Glücksspiels zuvorgekommen. Tatsächlich jedoch ist der Kern seiner Motivation wohl höchst ehrenwert: Er will den Traum seines Vaters erfüllen, der wenige Wochen zuvor von zwei jungen Autodieben erschossen worden war. James Jordan hatte sich stets gewünscht, dass sein viertes Kind Michael Baseball-Profi würde.
Möglich macht das Wahnsinnsprojekt der Immobilienhai Jerry Reinsdorf, dem nicht nur die Chicago Bulls gehören, sondern auch das Baseball-Team Chicago White Sox. Mit diesen absolviert Jordan das traditionelle Frühlings-Trainingslager. Journalisten berichten von Ausnahmezuständen. Menschenmassen reisen an, es gibt Gebrüll und Gedränge, Hysterie und Handgemenge. Häufig erschallt von den Tribünen das Jordan-Loblied „I want to be like Mike“. Dabei sammelt der zunächst unzählige „Strikeouts“. Drei Chancen hat der Schlagmann, mit dem Schläger die Bälle zu treffen, die ihm der gegnerische Pitcher serviert. Auch nach hunderten Stunden Training, verteilt auf teils fünf Einheiten pro Tag, trifft Jordan meist keinen Ball.
Aber er wird nicht schwach, geht nicht zurück zum Basketball – und steigt auch nicht in den Boxring, obwohl man ihm 15 bis 25 Millionen Dollar für einen einzigen Schwergewichts-Kampf bietet.
Die „Sports Illustrated“bringt in diesen Wochen ein unvorteilhaftes Bild von ihm auf dem Cover. Die Schlagzeile lautet „Lass es, Michael!“. Untertitel: „Jordan und die White Sox beschämen den Baseballsport.“Die Überschrift im Innenteil lautet „Err Jordan“. Ein Wortspiel mit „Air Jordan“. Der Fliegende von einst – ein Irrender, auf Abwege Geratener?
Ja und Nein. Tatsächlich hat Jordan ein mittelgroßes Wunder erzwungen: Knapp 15 Jahren Trainingsrückstand zum Trotz ist er auf einem guten Weg zum Durchschnitts-Baseballer. Mehr wäre kaum menschenmöglich. Für die Profi-Liga MLB reicht es aber vorn und hinten nicht. Als die White Sox verkünden, dass Jordan keinen Platz in ihrem Profi-Kader bekommen wird, tut dieser, was niemand erwartet. Er geht zu Chicagos unterklassigem Nachwuchs-Team, den Birmingham Barons in Alabama. Die Liga heißt Double-A, es ist weder die höchste noch die zweithöchste. Kleine Stadien. Schlechte Hotels. Und zwölfstündige Busfahrten dazwischen.
Michael Jeffrey Jordan, 31 Jahre alt, dreifacher NBA-Champ, dreifacher Finals-MVP (bester Spieler), siebenfacher Topscorer, neunfacher All-Star, zweifacher Olympia-Sieger, berühmtester Mensch seiner Zeit, spielt in der Dritten Liga. Für offiziell 850 Dollar im Monat plus 16 Dollar Spesen pro Tag. (Hinzu kommen Werbeeinnahmen plus rund vier Millionen Dollar NBA-Gehalt, das Teambesitzer Reinsdorf ihm weiter zahlt, um ihn bei Laune zu halten.)
Aber wie er spielt! In den ersten Wochen der Saison übertrifft er die entscheidende Trefferquote von 30 Prozent. Dreizehn Spiele in Folge landet er mindestens einen Treffer. Er fühle sich wohl, jung, unbeschwert, genieße das Spielen und Lernen, beteuert er. Doch die ersehnte Ruhe findet er nicht. Die meisten der knapp 500.000 Zuschauer kommen nicht wegen der Birmingham Barons im Speziellen oder des Baseballs im Allgemeinen. Sie wollen Jordan sehen. Um bejubelt zu werden, muss er nicht treffen, nicht schlagen, nicht mal im Spiel sein. Es reicht, dass er auf der Bank sitzt. Sankt Michael.
Auf jeden Glücksmoment kommt eine Menge Frust. Als nach einer Basketball-Partie mit Jordan jemand hyperventilierend in die Notaufnahme eingeliefert wird, interessiert die Ärzte und Krankenschwestern nur eines: „Wie ist es, mit MJ zu spielen?“
Das Hoch hält nicht lange. Seine Gegenspieler servieren ihm angeschnittene Bälle, Jordans Schlagquote stürzt von 32,7 Prozent ab auf miese 18,6 Prozent. Die „Mendoza-Schwelle“von 20 Prozent gilt als absolute Untergrenze für Kompetenz. Wer in seiner Liga so schlecht trifft, hat dort nichts verloren. Punkt. Doch beim 354. Antritt gelingt Jordan der ersehnte erste Homerun. Fast 14.000 Zuschauer rasten aus, als er das Feld umrundet. Schließlich zeigt er in den Himmel: Dad, das ist für dich! Am Tag darauf wäre James Jordan 58 geworden. „Ich wünschte, er wäre hier gewesen, um das zu sehen“, sagt Michael Jordan danach. „Aber dass er es gesehen hat, weiß ich.“
Es bleibt ein seltener Höhepunkt. Am Saisonende sind 127 Spiele gespielt, Jordan hat 114 Strikeouts hinnehmen müssen, drei Homeruns geschafft und nach einem starken Endspurt wenigstens 20,2 Prozent seiner Schläge getroffen. Der schlechteste Hitter der gesamten Liga bleibt er.
Sein Trainer Mike Barnett betont: „Michael hat fünf Mal pro Tag trainiert. Seine Hände waren blutig und voller Blasen, seine Intensität war unvergleichlich.“Und auch Jordans Statistiken seien so schlecht nicht: Während die Gegner seinen Bällen hinterherhechteten, schafften es 51 seiner Mitspieler zurück zur Homeplate. Jordan selbst „stahl“30 Bases, das heißt, er machte wieder und wieder unter hohem Risiko Strecke. Nur vier Spieler der gesamten Liga hatten mehr.
Curt Bloom kommentiert die Spiele der Barons heute wie damals fürs Radio. Er sagt: „Ich sah, wie er vor meinen Augen ein amtlicher Baseballspieler wurde. Seine Gegenspieler waren nervös, wenn sie ihm gegenübertraten.“
Jordan hängt nach dem langen Sommer noch ein paar Spiele in der Herbstliga AFL mit den Scottsdale Scorpions dran (Schlagquote: 25,2 Prozent). Nach wenigen Wochen Winterpause stürzt er sich mit deutlich muskulöseren Armen in sein zweites Traingslager mit den White Sox. Am 2. März 1995 allerdings stürmt er Hals über Kopf aus dem Camp. Sein Privatjet wackelt als Abschiedsgruß nochmal mit den Flügelspitzen – dann ist das Baseball-Experiment jäh beendet.
Am 18. März erscheint die berühmteste Pressemitteilung aller Zeiten – kompletter Text: „I’m back“. Schon am Tag darauf läuft er wieder auf dem Basketballplatz für die Bulls auf. Das hat vermutlich drei Hauptgründe: Erstens befinden sich die Baseball-Profis im Arbeitskampf, und Jordan fühlt sich dazu gedrängt, als Streikbrecher aufzutreten. Zweitens hat er realisiert, dass er der Medienaufmerksamkeit kaum entkommen kann – und dass er damit als Basketballer besser umgehen kann als im Baseball. Drittens hat er das Gefühl, den Traum seines Vaters realisiert zu haben.
Auch mehr als ein Vierteljahrhundert später mutet vieles an dieser gut einjährigen Episode seltsam an. Grundsätzlich aber darf man auch einem Michael Jordan – zumal nach dem Mord an seinem Vater – menschliche Anwandlungen zugestehen wie Müdigkeit und Verlorenheit, Nostalgie, Sentimentalität und eine ganz besondere Art von Mut. Den Mut, dorthin zu gehen, wo es weh tut.
Der dreifache NBA-Champ, siebenfache Topscorer, neunfache All-Star, zweifache OlympiaSieger und berühmteste Mensch
seiner Zeit spielt als Baseballer in der Dritten Liga. Die Frage nach dem Weshalb ist bis heute ungeklärt.
Mit den Chicago Bulls gewann Jordan von 1996 bis 1998 drei weitere Meisterschaften. Als bester Basketballer aller Zeiten erklärte er seine Karriere 1999 erneut für beendet. Sein zweites, erfolgloses Comeback von 2001 bis 2003 für das Kellerteam Washington Wizards wird allgemein behandelt, als hätte es nie stattgefunden.