Das äthiopische Pulverfass
Die Militäroffensive gegen die Tigray im Norden des Landes droht einen Flächenbrand am Horn von Afrika zur Folge zu haben.
Seit Premier Abiy Ahmed den Tigray Anfang November den Krieg erklärt hat, ist in der internationalen Berichterstattung schnell von einem drohenden Auseinanderfallen Äthiopiens die Rede. Ganz offenkundig macht sich die TLPF (Tigray People's Liberation Front) Hoffnung, Abiy, der erst im vergangenen Dezember für das Friedensabkommen zwischen Äthiopien und Eritrea mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, in die Knie zwingen zu können, wenn erst einmal ein Flächenbrand ausbricht. Die Lunte dazu wurde gelegt, als die TPLF am 3. November eine Militärbasis der nationalen Armee überfiel. Augenscheinlich war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und genau das wohl auch bewirken sollte. Manche politischen Beobachter meinten denn auch, dass Abiy spätestens jetzt reagieren musste – dies womöglich aber längst hätte tun müssen.
Seit geraumer Zeit hatte die immer wieder mit einer Separation des im Norden des Landes gelegenen Tigray liebäugelnde TPLF die Zentralregierung gezielt herausgefordert.
Im Frühjahr hatte Abiy seine zentrale politische Vision – eine sämtliche ethnischen Fesseln abstreifende äthiopische Union – mit der Gründung seiner neuen „Wohlstandspartei“(„Prosperity Party PP“) etablieren wollen. Die TPLF scherte sofort aus: Als einzige der bedeutenden Volksgruppen weigerte sie sich, in Abiys neuer Sammelbewegung aufzugehen. Im September, als die TPLF gegen Abiys Willen eine (von ihr im übelsten Sozialismus-Stil mit 98 Prozent Stimmenanteil gewonnene) Regionalwahl abhielt, schien der Konflikt schon einmal zu eskalieren.
Zuvor waren die für August geplanten landesweiten Wahlen – offiziell aufgrund der Corona-Pandemie – verschoben worden. Seither mehrten sich auch in anderen Landesteilen die Vorwürfe, Abiy regiere zusehends autokratisch. Tatsächlich aber – ein selten zu lesendes, aber wichtiges Detail – hatten einige Oppositionsparteien selbst für eine Wahlverschiebung plädiert, weil sie in Corona-Zeiten ihre politischen Ziele nur unzureichend hätten verbreiten können.
242 Terrorverdächtige sollen zuletzt in Addis festgenommen und zuhauf Waffen konfisziert worden sein, nachdem sie in der Hauptstadt angeblich einen Anschlag geplant hatten. Wie fast alles, was seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung und der abtrünnigen Tigray-Regionalregierung kolportiert wird, lässt sich auch dies nicht überprüfen.
Dass der militärische Konflikt zwischen der Regierung in Addis Abeba und der seit fast 30 Jahren in Tigray führenden TPLF durch gezielte Terrorakte in die Hauptstadt getragen werden könnte, liegt nahe. Am vergangenen Samstag wurden zwei von der TPLF verübte Raketenangriffe auf die südlich der Provinz Tigray gelegenen Flughäfen von Gondar und Bahir Dar gemeldet. Ethiopian Airlines stellte danach die Flugverbindungen in beide, in der Provinz Amhara liegenden Städte ein. Ziel erreicht, dürfte sich die TPLF sagen.
Die Amharen, zahlenmäßig nach den Oromos die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in Äthiopien, sind in den vergangenen Monaten immer wieder von Terrorakten heimgesucht worden. Hauptsächlich in Oromoland starben hunderte Amharen bei ethnisch motivierten, genozidartigen Mordakten. Womöglich, weil keine andere Volksgruppe den mit dem Slogan „Ethiopia first“überschriebenen nationalen Aussöhnungskurs von Premier Abiy nachhaltiger unterstützt hat als die Amharen. Überdies besteht eine tiefe Rivalität zwischen den Tigray und Amharen , die nun auf gefährliche Weise in die Kämpfe in Tigray hineinspielt. Fordern doch die auf Seiten der Nationalarmee kämpfenden Amharen (wie auch die im Nordosten beheimatete Volksgruppe der Afar) nun im Windschatten der Offensive der nationalen Armee Gebiete zurück, die die Tigray ihnen fast drei Jahrzehnte zuvor entrissen hatten. In dem derzeitigen Krieg sollen nun auch alte Rechnungen beglichen werden.