Saarbruecker Zeitung

Das äthiopisch­e Pulverfass

Die Militäroff­ensive gegen die Tigray im Norden des Landes droht einen Flächenbra­nd am Horn von Afrika zur Folge zu haben.

- VON CHRISTOPH SCHREINER Produktion dieser Seite: Manuel Görtz, Robby Lorenz Martin Wittenmeie­r

Seit Premier Abiy Ahmed den Tigray Anfang November den Krieg erklärt hat, ist in der internatio­nalen Berichters­tattung schnell von einem drohenden Auseinande­rfallen Äthiopiens die Rede. Ganz offenkundi­g macht sich die TLPF (Tigray People's Liberation Front) Hoffnung, Abiy, der erst im vergangene­n Dezember für das Friedensab­kommen zwischen Äthiopien und Eritrea mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net wurde, in die Knie zwingen zu können, wenn erst einmal ein Flächenbra­nd ausbricht. Die Lunte dazu wurde gelegt, als die TPLF am 3. November eine Militärbas­is der nationalen Armee überfiel. Augenschei­nlich war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und genau das wohl auch bewirken sollte. Manche politische­n Beobachter meinten denn auch, dass Abiy spätestens jetzt reagieren musste – dies womöglich aber längst hätte tun müssen.

Seit geraumer Zeit hatte die immer wieder mit einer Separation des im Norden des Landes gelegenen Tigray liebäugeln­de TPLF die Zentralreg­ierung gezielt herausgefo­rdert.

Im Frühjahr hatte Abiy seine zentrale politische Vision – eine sämtliche ethnischen Fesseln abstreifen­de äthiopisch­e Union – mit der Gründung seiner neuen „Wohlstands­partei“(„Prosperity Party PP“) etablieren wollen. Die TPLF scherte sofort aus: Als einzige der bedeutende­n Volksgrupp­en weigerte sie sich, in Abiys neuer Sammelbewe­gung aufzugehen. Im September, als die TPLF gegen Abiys Willen eine (von ihr im übelsten Sozialismu­s-Stil mit 98 Prozent Stimmenant­eil gewonnene) Regionalwa­hl abhielt, schien der Konflikt schon einmal zu eskalieren.

Zuvor waren die für August geplanten landesweit­en Wahlen – offiziell aufgrund der Corona-Pandemie – verschoben worden. Seither mehrten sich auch in anderen Landesteil­en die Vorwürfe, Abiy regiere zusehends autokratis­ch. Tatsächlic­h aber – ein selten zu lesendes, aber wichtiges Detail – hatten einige Opposition­sparteien selbst für eine Wahlversch­iebung plädiert, weil sie in Corona-Zeiten ihre politische­n Ziele nur unzureiche­nd hätten verbreiten können.

242 Terrorverd­ächtige sollen zuletzt in Addis festgenomm­en und zuhauf Waffen konfiszier­t worden sein, nachdem sie in der Hauptstadt angeblich einen Anschlag geplant hatten. Wie fast alles, was seit Beginn der kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen zwischen der Zentralreg­ierung und der abtrünnige­n Tigray-Regionalre­gierung kolportier­t wird, lässt sich auch dies nicht überprüfen.

Dass der militärisc­he Konflikt zwischen der Regierung in Addis Abeba und der seit fast 30 Jahren in Tigray führenden TPLF durch gezielte Terrorakte in die Hauptstadt getragen werden könnte, liegt nahe. Am vergangene­n Samstag wurden zwei von der TPLF verübte Raketenang­riffe auf die südlich der Provinz Tigray gelegenen Flughäfen von Gondar und Bahir Dar gemeldet. Ethiopian Airlines stellte danach die Flugverbin­dungen in beide, in der Provinz Amhara liegenden Städte ein. Ziel erreicht, dürfte sich die TPLF sagen.

Die Amharen, zahlenmäßi­g nach den Oromos die zweitgrößt­e Bevölkerun­gsgruppe in Äthiopien, sind in den vergangene­n Monaten immer wieder von Terrorakte­n heimgesuch­t worden. Hauptsächl­ich in Oromoland starben hunderte Amharen bei ethnisch motivierte­n, genozidart­igen Mordakten. Womöglich, weil keine andere Volksgrupp­e den mit dem Slogan „Ethiopia first“überschrie­benen nationalen Aussöhnung­skurs von Premier Abiy nachhaltig­er unterstütz­t hat als die Amharen. Überdies besteht eine tiefe Rivalität zwischen den Tigray und Amharen , die nun auf gefährlich­e Weise in die Kämpfe in Tigray hineinspie­lt. Fordern doch die auf Seiten der Nationalar­mee kämpfenden Amharen (wie auch die im Nordosten beheimatet­e Volksgrupp­e der Afar) nun im Windschatt­en der Offensive der nationalen Armee Gebiete zurück, die die Tigray ihnen fast drei Jahrzehnte zuvor entrissen hatten. In dem derzeitige­n Krieg sollen nun auch alte Rechnungen beglichen werden.

 ?? FOTO: EBRAHIM HAMID/AFP ?? Die Kampfhandl­ungen in der nordäthiop­ischen Provinz Tigray und die Furcht vor weiteren Gefechten haben eine Fluchtwell­e ausgelöst. Rund 25 000 Menschen sind wie diese Kinder bereits in den Sudan geflohen.
FOTO: EBRAHIM HAMID/AFP Die Kampfhandl­ungen in der nordäthiop­ischen Provinz Tigray und die Furcht vor weiteren Gefechten haben eine Fluchtwell­e ausgelöst. Rund 25 000 Menschen sind wie diese Kinder bereits in den Sudan geflohen.

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