Kreativ sein bleibt in – und ist gefährlich
Zeichnen, denken, tanzen, entwerfen – damit lässt sich auch in Zukunft Geld verdienen. Denn Automatisierungsprozesse gefährden die Kreativbranche kaum.
ind, was willst du damit bloß mal werden?! Das hören nahezu alle, die sich für sogenannKte
Leidenschaftsberufe entscheiden. Sie erklären ihre Muse zum Lebens-Leitstern statt zum konkreten Berufsziel: das Zeichnen, Geige spielen, Gedichte lesen. Und werden dann wie durch ein Wunder doch was Handfestes: Kunsthändler, Architekt, Werbegrafiker, Lektor, Kabarettist. Bundesweit waren 2019 rund 1,8 Millionen Menschen in der „bunten“Branche der Kreativ- und Kulturwirtschaft (Umsatz: 174 Milliarden Euro) beschäftigt. Das sind drei Prozent aller Erwerbstätigen. Das Saarland liegt mit einem Prozent unter dieser Quote. Es gibt hier also Nachholbedarf und damit gute Aussichten für Berufsanfänger.
Dass 300 000 Menschen in der Branche als Mini-Jobber arbeiten, mit einem Jahresumsatz von weniger als 17 500 Euro, müsste an sich eine Warnung sein. Ist es aber nicht. Die beiden künstlerischen Hochschulen des Saarlandes, die Musikhochschule wie auch die Hochschule der Bildenden Künste (HBK), melden seit Jahren wachsende, ja dynamische Zahlen. Waren 2003 in der HBK 288 Studierende gemeldet, sind es aktuell 479. Zugleich verschoben sich in den vergangenen 15 Jahren die Gewichte: Schrieb sich früher etwa die Hälfte der Studierenden in freier Kunst ein, ist es heute nur noch ein Fünftel. Das erklärt sich nicht nur mit einer Spreizung des Angebotes (Kuratieren, Media Art Design, Museumspädagogik), sondern womöglich auch mit einer grundsätzlichen Erfahrung. „Nur zwei Prozent der Leute, die Freie Kunst studieren, können später davon leben. Die Absolventen der Design-Studiengänge gehen hingegen direkt in den Job“, sagt Andreas Bayer, HBK-Dozent und HBK-Sprecher. Er beobachtet, dass sich immer mehr Kreative zugleich auch ihre eigenen Berufsfelder kreieren: „Die junge Generation zockt gern. Früher wollte jeder eine Rockband gründen, heute wollen sie Game-Entwickler werden.“
Tatsächlich weist der Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2020 der Bundesregierung, der sich mit den Corona-Auswirkungen befasst, die Bereiche Streaming, Podcasts und Games als „resiliente“, also widerstandsfähige, Märkte aus. Allein die Umsätze der Games-Industrie stiegen im ersten Halbjahr 2020 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 27 Prozent auf 3,7 Milliarden Euro. Beste Prognosen wagt auch der Bundesverband Deutscher Galerien. Es gebe einen Generationswechsel bei Sammlern wie Galeristen. Der Kunsthandel habe den Sprung zu den jungen Kunden geschafft, heißt es. Die Nachfrage nach qualifizierten Kräften für professionelle Beratung steige.
Professor Werner Eichhorst vom Bonner Forschungs-Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) schätzt die Kreativund Kulturbranche sogar generell als „Wachstumsbranche“ein.
Zum einen sei sie von Automatisierungsprozessen weniger betroffen als andere, zudem wachse der Freizeitund Unterhaltungsbereich. „In Deutschland ist die Freizeit großzügig bemessen. Auf diesem Sektor wird es mehr Konsum geben. Das Potenzial muss man hoch einschätzen.“Denn Industrieprodukte würden günstiger, die Einkommen hingegen höher. Der Wachstumstrend greift laut Eichhorst aber nicht auf den öffentlichen Sektor über: Der Staat werde nicht mehr Orchester und Theater finanzieren, Museen ihren Ankaufsetat nicht steigern. Eichhorst erwartet zugleich einen Wandel vieler Berufsbilder: In Museen tauchten Digitalkuratoren auf, die nur noch virtuelle Ausstellungen konzipierten, klassische Intellektuelle verwandelten sich in Blogger.
Die Kultur- und Kreativwirtschaft muss sich also keine Zukunftsängste machen. Und ist Kreativität mittlerweile nicht in der gesamten Arbeitswelt zu einem Wert an sich geworden? Der Saarbrücker Medientheoretiker Soenke Zehle, Mitgeschäftsführer des „K8 Institut für strategische Ästhetik“sieht den „Wir-finden-Kreativität-toll-Trend“kritisch. Wenn Arbeitsprozesse fragiler und komplexer würden, setzten Unternehmen Kreativität nur kurzfristig als „Reparaturmechanismus“ein, meint er. Zehle sieht auf Künstler und Kreative ähnliche Herausforderungen zukommen wie auf viele Arbeitnehmer und Unternehmer: Sie könnten nicht mehr länger nur „schöne Dinge“erfinden oder designen, sondern müssten deren Produktionsprozesse kennen und offenlegen. Menschen wollten über Lieferketten Bescheid wissen, verlangten Transparenz, honorierten Nachhaltigkeit, interessierten sich für die Geschichte hinter dem (Kunst-)Produkt. Zudem hält Zehle die Zahl der Follower in sozialen Medien für die neue Erfolgswährung, auch für Künstler im Live-Segment. Doch die Corona-Pandemie habe gezeigt, „dass es nicht genügt, ein Handy auf den Flügel zu stellen“, so Zehle. Als aussichtsreiches neues Arbeitsfeld nennt er das Thema Urbanität. „Wenn Innenstädte veröden, weil sich der Einzelhandel wegen des Online-Handels zurückzieht, kann das für die Kultur eine neue Rolle bedeuten.“
Rosige Zeiten? Nicht, was die individuelle Existenzsicherung angeht. Darauf weist der Bonner Experte Eichhorst hin. „Die Spreizung der Einkommen ist immens. Superverdiener sind rar, ein stabiles Facharbeiter-Gehaltsniveau kann man nicht erwarten.“Dadurch stellen sich grundsätzliche gesellschaftliche Fragen, denn der typische Arbeitnehmer der Branche ist nun mal der Freelancer, der sich seine Existenz durch Mehrfach-Tätigkeiten oder Zusatz-Erwerbsquellen wie etwa Erbschaften sichert. Der Saarbrücker Kreativmarkt-Experte Zehle hält fest: „Kreative faszinieren derzeit als Vorbilder in einer immer flexibleren Wirtschaftswelt. Dafür bezahlen sie mit größter existenzieller Unsicherheit. Wir sollten uns fragen: Wollen wir eine solche Minijobber-Gesellschaft und unsere Sozialsysteme aushebeln?“
Alle erschienenen Teile der Serie gibt es online: www.saarbrueckerzeitung.de/arbeit-mit-zukunft