Armut, Bomben, Corona: Afghanistans Horror-ABC
Das geschundene Afghanistan soll nach Jahrzehnten der Konflikte auf eigene Füße kommen. Noch einmal sind Milliarden an Hilfsgeldern nötig.
(dpa) Wenn die eigenen Kinder vor Hunger nur noch wimmern. Wenn man selbst mit tagelang leerem Magen kaum noch Kraft hat. Wenn irgendwo wieder eine Bombe hochgeht – für viele Afghaninnen und Afghanen ist das Alltag. Nach Jahrzehnten der Bürgerkriege, nach Dürren und nun mit der Corona-Pandemie brauchen mehr als elf Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. Das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung.
Bei einer Geberkonferenz am Dienstag in Genf hoffte Afghanistans Regierung auf weitere Milliardenhilfen. Deutschland stellte bis 2024 jährlich bis zu 430 Millionen Euro in Aussicht. Insgesamt nahm die Spendenbereitschaft der Staaten aber deutlich ab. Die Höhe der Gesamtsumme war zunächst unklar, dürfte aber nach Einschätzung von Diplomaten unter den 15 Milliarden Dollar für vier Jahre bleiben, die bei der Geberkonferenz 2016 zusammenkamen. Die Finanzhilfen waren zudem an Bedingungen geknüpft, auch wegen der ungewissen Zukunft der afghanischen Friedensgespräche.
Künftig sollen die Menschen möglichst weniger von den Hilfen abhängig werden, dafür arbeitet zum Beispiel die Deutsche Welthungerhilfe. Etwa „indem wir mit Dorfbewohnern ein Gewächshaus bauen und sie darin schulen, wie sie optimal pflanzen und ernten können“, sagte Mitarbeiterin Alexandra Singpiel. Die Dürren 2018 und 2019 haben das Land schwer gebeutelt. Es ging im Frühjahr langsam aufwärts – als die Corona-Pandemie kam. Angehörige im Ausland verloren ihre Arbeit und konnten kein Geld mehr schicken, Tagelöhner in den Städten fanden keine Jobs mehr, die Nahrungsmittelpreise explodierten, weil die Grenzen geschlossen wurden und Nachschub fehlte. Dazu kommt der bewaffnete Konflikt.
Gefechte, Bombenangriffe und
Thomas Ruttig
gezielte Tötungen sind Alltag in Afghanistan, ein Großteil der überwiegend jungen Bevölkerung ist damit aufgewachsen. Seit der US-geführten Invasion nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und ihrer Vertreibung aus Kabul kämpfen die militant-islamistischen Taliban gegen die vom Westen gestützte Regierung. Auch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ist im Land aktiv.
Ein Deal mit den USA verpflichtete die Taliban Ende Februar zur Aufnahme von innerafghanischen Friedensgesprächen. Der Auftakt Mitte September weckte neue Hoffnung auf ein Ende des Konflikts. Ein Waffenstillstand ist jedoch nicht in Sicht. Die Verhandlungen könnten sich noch lange hinziehen, sagt der renommierte Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Vor der Konferenz hatten die Staaten einen entschiedenen Kampf gegen Korruption gefordert. Am Sonntag hob Präsident Aschraf Ghani dafür eine neue Kommission ins Amt. Eine von vielen. Durch die zahlreichen Institutionen seien die Antikorruptionsbemühungen „zahnlos“, kritisiert Expertin Muska Dastageer. Kriegswirtschaft begünstige Korruption, erklärt Ruttig. „Die Korruption in den afghanischen Institutionen ist ein ganz großes Problem, das beseitigt werden muss, um eine Effektivität der Hilfe zu erreichen“. Der Experte sieht auch bei der internationalen Gemeinschaft eine Mitschuld. „Die Geberländer haben Korruption zu großen Teilen sogar geduldet, weil sie der Ansicht waren, dass bestimmte Verbündete nur gekauft werden können.“
Die Staatengemeinschaft investiert in eine ungewisse Zukunft Afghanistans – auch wegen des geplanten Abzugs der Nato-Streitkräfte. Doch Hilfsgelder können auch Druckmittel sein, wenn die Taliban wieder an der Regierung beteiligt sein sollten, sagt Ruttig. Das Land ist weiter zerstört worden, auch der Frieden wird Geld kosten. „Die Geberländer haben eine Verantwortung dafür, was aus Afghanistan in den letzten 20 Jahren seit der Intervention geworden ist, und können sich nicht einfach zurückziehen.“
„Hilfsgelder können auch Druckmittel sein.“
Denkfabrik Afghanistan Analysts Network