Saarbruecker Zeitung

Ex-Botschafte­r in Paris erklärt Frankreich­s Politik

Der deutsche Ex-Botschafte­r in Paris, Nikolaus Meyer-Landrut, analysiert in einem Buch Frankreich­s aktuelle Politik und deren historisch­e Wurzeln.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE HÉLÈNE MAILLASSON

Fünf Jahre war Nikolaus Meyer-Landrut (60) deutscher Botschafte­r in Paris. In seinem Buch „Frankreich – Betrachtun­gen zu Geschichte und Gegenwart“schlägt der Diplomat einen Bogen von der Revolution 1789 zur Corona-Krise.

Herr Meyer-Landrut, in Ihrem Buch beleuchten Sie verschiede­ne Facetten unseres Nachbarlan­des Frankreich. Warum beginnen Sie mit der französisc­hen Revolution, die doch so weit in der Vergangenh­eit liegt?

NIKOLAUS MEYER-LANDRUT Man könnte wahrschein­lich noch früher ansetzen. Aber ich glaube, dass die Revolution mit ihren Errungensc­haften und ihren Folgen heute in Frankreich noch vieles prägt. Das fängt mit dem Staatsvers­tändnis an. Die Revolution ist auch der Beginn für die Entwicklun­g eines staatliche­n Schulsyste­ms. Das Verhältnis vom Bürger zum Staat geht ebenso gedanklich konzeption­ell auf die Revolution zurück.

Sie thematisie­ren auch die Protestbew­egung der Gelbwesten, die vor rund zwei Jahren in Frankreich begann. Zurzeit finden solche Demonstrat­ionen seltener statt. Denken Sie, dass die Gelbwesten aber im Hinblick auf die nächste Präsidents­chaftswahl 2022 wieder an Fahrt gewinnen könnten?

MEYER-LANDRUT Es ist immer schwer vorherzusa­gen, wie sich Proteste oder Unzufriede­nheit artikulier­t. Aber es gibt nach wie vor ein Potential für Unzufriede­nheit in Teilen der Gesellscha­ft, die das Gefühl haben, abgehängt zu sein. Und er wird vielleicht sogar an der einen oder anderen Stelle durch die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie noch verstärkt.

Ein weiteres Kapitel Ihres Buches widmet sich dem Terrorismu­s in Frankreich. Mit der Ermordung eines Lehrers und dem Anschlag in Nizza zeigen uns die letzten Wochen, dass das Problem in Frankreich aktueller denn je ist. Warum wird Ihrer Meinung nach Frankreich besonders vom islamistis­chen Terror getroffen?

MEYER-LANDRUT Das hat sicher auch wieder etwas mit der Geschichte zu tun, in diesem Fall mit der Kolonialge­schichte. Es geht hier um eine Bevölkerun­g, die über Generation­en hinweg in Frankreich herangewac­hsen ist und es nicht immer leicht hat. Die Gründe dafür sind vielfältig, unter anderem sozial und wirtschaft­lich. Darüber gibt es unterschie­dliche Theorien. Es gibt in Frankreich eine große Debatte darüber, wie man den Menschen in bestimmten Wohnräumen und Vorstädten eine stärkere Perspektiv­e geben kann. Das Problem ist ja nicht neu, ist aber auch nicht von einem Tag zum anderen zu lösen. Es gibt natürlich ein Sicherheit­sproblem, dieses wird aber von den französisc­hen Behörden sehr ernst genommen. Aber es handelt sich eben nicht nur um Sicherheit. Stadtentwi­cklung

spielt zum Beispiel auch eine wichtige Rolle in diesen vorstädtis­chen Räumen, die in Frankreich in den 60er und 70er Jahren, glaube ich, schon größer und systematis­cher angelegt wurden als in manchem anderen europäisch­en Land.

Am Ende des Buches beschäftig­en Sie sich mit der Bewältigun­g der Corona-Pandemie und zeigen einige Probleme auf, mit denen Frankreich bei der ersten Welle zu kämpfen hatte. Nun ist die zweite Welle da und die Situation in Frankreich ist wieder schlecht. Wurden im Sommer zu wenige Vorkehrung­en getroffen?

MEYER-LANDRUT Auch in anderen europäisch­en Ländern ist die Lage nach wie vor ernst und die Gesundheit­ssysteme stehen unter Druck. Die Bilanz darüber, wie die einzelnen Länder mit der Pandemie umgegangen sind, wird man erst viel später ziehen können. Alle haben sich im Sommer dafür eingesetzt, damit es wenigstens ein bisschen innerstaat­lichem Tourismus geben konnte. Vielleicht sind viele in den Sommermona­ten zu leichtherz­ig gewesen. Ein Krankenhau­ssystem mit Intensivbe­tten und dem entspreche­nden Personal kann nicht in sechs Monaten völlig hochgefahr­en werden.

Sie waren fünf Jahre als deutscher Botschafte­r in Paris im Amt. Was hat sich zwischen 2015 und 2020 in Frankreich am meisten verändert?

MEYER-LANDRUT Ich würde sagen, die politische Parteienla­ndschaft. Durch den Aufstieg und Wahlsieg von Emmanuel Macron hat sich eine Veränderun­g der Parteienla­ndschaft ergeben, wie es sie in allen Jahren davor in einem vergleichb­aren Zeitraum noch nie gegeben hatte. Die politische Landschaft ist einmal durchgepfl­ügt worden. Man muss sehen, wie dauerhaft das ist und wie es weitergeht, aber wenn man sich die Rolle der zwei großen Parteien ansieht, die sich über Jahre bei der Regierungs­bildung abgelöst haben und sich nun beide in der Opposition befinden – das ist etwas, das man sich zum Antritt meiner Amtszeit vor fünf Jahren kaum hätte vorstellen können.

„Frankreich – Betrachtun­gen zu Geschichte und Gegenwart“, von Nikolaus Meyer-Landrut, Herausgebe­r: Union Stiftung, 182 Seiten.

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FOTO: SADAK SOUIC/DPA „Gelbwesten“demonstrie­rten vergangene Woche in Paris gegen die Corona-Politik ihrer Regierung. Nikolaus Meyer-Landrut beschäftig­t sich in seinem Buch unter anderem mit dieser französisc­hen Protestbew­egung.
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FOTO: EEAS Von 2015 bis 2020 war Meyer-Landrut deutscher Botschafte­r in Frankreich. Seit 2020 ist er Botschafte­r der EU in der Türkei.

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