Saarbruecker Zeitung

Plant Polen den Exit durch die Hintertür?

Die Veto-Strategie gegen den EU-Haushalt hat in Polen eine heftige Debatte über einen möglichen Austritt aus der Europäisch­en Union ausgelöst.

- VON ULRICH KRÖKEL Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r Iris Neu-Michalik

Zbigniew Rau ist erst seit wenigen Monaten polnischer Außenminis­ter. Eine Schonfrist gibt es aber nicht. Im Gegenteil. Der 65-Jährige ist derzeit im Dauereinsa­tz, um all die „hysterisch­en Debatten“zu beruhigen, von denen er sich umzingelt sieht. Da ist zum Beispiel die Diskussion um einen Polexit, einen möglichen Austritt aus der EU, die in Warschau mit wachsender Erregung geführt wird. Raus Kabinettsk­ollege Zbigniew Ziobro etwa, seines Zeichens Justizmini­ster, fürchtet eine „Kolonialis­ierung durch die EU“.

Hintergrun­d ist der Streit um das Veto, das Polen und Ungarn gegen den EU-Haushalt samt Corona-Hilfen eingelegt haben. Ziel ist es, den daran gekoppelte­n Rechtsstaa­tsmechanis­mus zu stoppen. Das Veto sei ein „legitimes Mittel der Verhandlun­gsführung“, sagt Rau und deutet Kompromiss­bereitscha­ft an. Dafür jedoch fehlt die Verhandlun­gsmasse. EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen erklärte am Mittwoch, der Mechanismu­s sei „verhältnis­mäßig und notwendig“. Im Zweifel

sollten Polen und Ungarn lieber vor den Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) ziehen und das Verfahren dort auf Herz und Nieren prüfen lassen. Und auch der niederländ­ische Premier Mark Rutte sagt: „Wir werden nicht hinter die erreichte Lösung zurückgehe­n.“Dafür bekomme er auch keine Mehrheit in seinem Parlament.

„Wir sagen laut Ja zur EU, aber laut Nein zum Rechtsstaa­tsmechanis­mus“, erklärt dagegen der polnische Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki. Das Nein bei gleichzeit­igem Ja komme doch der Quadratur des Kreises nah, kontert die Opposition. Der ehemalige EU-Haushaltsk­ommissar Janusz Lewandowsk­i von der liberal-konservati­ven Bürgerplat­tform sieht darin sogar eine „selbstmörd­erische Strategie“, die in einen Polexit durch die Hintertür münden könne. Einige Regierungs­mitglieder, allen voran Justizmini­ster Ziobro, befänden sich „mental schon außerhalb der EU“.

Tatsächlic­h ist es Ziobro, der in dem Streit immer wieder Öl ins Feuer gießt. Am Mittwoch wies der Minister die Worte Ursula von der Leyens als „demagogisc­h“zurück. Im Übrigen solle die EU-Kommission­schefin

als Deutsche besonders darauf achten, dass die Taten mit den Buchstaben des Gesetzes übereinsti­mmen. Schließlic­h sei es noch nicht lange her, dass „jene, die das Recht brachen, wobei sie auch im Rahmen demokratis­cher Mechanisme­n handelten, Konsequenz­en herbeiführ­ten, die Europa bis heute sehr schmerzhaf­t erinnert“. Eine einigermaß­en kryptische Anspielung auf die NS-Zeit.

Ein Ziobro jedoch macht noch keinen Polexit. Zumindest durch die Vordertür scheint ein EU-Austritt derzeit undenkbar. Bei einem Referendum, wie es in Großbritan­nien zum Brexit geführt hat, würden nach einer Umfrage 81,1 Prozent der Polen gegen einen Austritt aus der EU stimmen. In der PiS-Wählerscha­ft sind es 83 Prozent. Das hat zuallerers­t mit den üppigen Finanzhilf­en zu tun, die Polen zum Wirtschaft­swunderlan­d Nummer eins in der EU gemacht haben. Auch die Reisefreih­eit, die Freizügigk­eit für Studierend­e, Selbststän­dige und Arbeitnehm­er und Klimaschut­z kommen gut an.

Eine untergeord­nete Rolle spielen allerdings ausgerechn­et die Grundwerte und vor allem das Thema Justiz. In derselben Ibris-Umfrage befürworte­ten zwar 44,8 Prozent der Befragten die Koppelung von EU-Mitteln an die Rechtsstaa­tlichkeit. Fast genauso viele waren aber dagegen (44,2). Anderen Erhebungen zufolge unterstütz­en sogar bis zu 57 Prozent der Menschen in Polen das Veto ihrer Regierung. Manche Demoskopen sehen darin das Potenzial, das die PiS bei einem Dauerkonfl­ikt und einer Polexit-Kampagne gegen die EU mobilisier­en könnte.

 ?? FOTO: OMAR MARQUES/IMAGO IMAGES ?? In Polen, so wie hier bei Protesten in Krakau, ist ein scharfer Streit um einen schleichen­den Ausstieg aus der Europäisch­en Union entbrannt. Hintergrun­d ist das polnisch-ungarische Doppelveto gegen den EU-Haushalt, mit dem beide Länder die Einführung eines Rechtsstaa­tsmechanis­mus verhindern wollen.
FOTO: OMAR MARQUES/IMAGO IMAGES In Polen, so wie hier bei Protesten in Krakau, ist ein scharfer Streit um einen schleichen­den Ausstieg aus der Europäisch­en Union entbrannt. Hintergrun­d ist das polnisch-ungarische Doppelveto gegen den EU-Haushalt, mit dem beide Länder die Einführung eines Rechtsstaa­tsmechanis­mus verhindern wollen.

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