Saarbruecker Zeitung

Das Festival Primeurs findet diesmal digital statt: Wie die szenischen Lesungen gefilmt werden.

Absagen kam nicht infrage: Das Festival Primeurs findet diesmal digital statt, dazu werden die Theaterstü­cke der Autoren als szenische Lesung gefilmt. Es braucht vier Stunden und viel Mut zur Wiederholu­ng, bis eine Lesung im Kasten ist.

- VON SOPHIA SCHÜLKE Produktion dieser Seite: Sophia Schülke, Esther Brenner Dietmar Klosterman­n

Sieben Frauen und Männer sitzen im Kreis auf der Bühne der Alten Feuerwache, die schwarz und dekoration­slos ist. Ihr Thema, das Schicksal eines achtjährig­en Jungen namens Rémi. „Die Tagesklini­k kann Rémi nicht aufnehmen“, liest ein Schauspiel­er aus seinem Stückbuch ab. Er spricht die Rolle des Kinderther­apeuten. „Warum geben wir ihn nicht seiner Mutter zurück?“, fragt sein Gegenüber, die Schauspiel­erin, welche die Jugendamts­leiterin liest, und sich auf ihrem Stuhl zurücklehn­t. „Rémi ist ein Musterbeis­piel für das Versagen des Systems zum Schutze der Kindheit, das spürt man auch an der Aggressivi­tät um diesen Tisch herum“, klingt verdächtig nach der Psychologi­n im Stück. Gegenfrage der Sitznachba­rin mit der nervösen Sekretärin­nenrolle: „Zucker?“

Nur zwei der Schauspiel­er werden mit Scheinwerf­ern hell erleuchtet, die anderen sitzen im Dunkel der Bühne. Das Licht braucht Videoregis­seur Grigory Shklyar, um sie mit einer Kamera zu filmen. Ist die Szene durchgespr­ochen, rückt jeder auf den Stuhl des Nachbarn, dann beginnt die Diskussion um Rémi von vorne. Alle blättern ihre Textseiten zurück, und schlagen die Titelseite, auf der „Versagen/Défaillanc­es“von Blandine Bonelli steht, um. Nun sitzen zwei andere Darsteller im Scheinwerf­erlicht der Kamera. Techniker geben noch letzte Hinweise zu den Mikros, die die Schauspiel­er tragen, dann ist der Saal von Konzentrat­ion und Stille erfüllt. Shklyar hält eine Filmklappe vor die Kamera, das heißt los. „Es stimmt schon, dass der Umbau zum Großraumbü­ro das gesamte Team geschwächt hat“, sagt die Schauspiel­erin, die jetzt die Psychologi­n liest, und zu leeren Publikumsr­eihen blickt. „In meiner Abteilung treffe ich die Entscheidu­ngen“, ruft der Kinderther­apeut aus dem Stuhlkreis zurück. „Soll das als Schlusssat­z ins Protokoll?“Zumindest nicht für diese Aufnahme. Die Szene ist zwar zu Ende, aber jeder rückt eins weiter, und die Lesung beginnt wieder von vorn.

Was das Team des Saarländis­chen Staatsthea­ters am vergangene­n Freitagabe­nd in der Alten Feuerwache immer

Horst Busch wieder durchexerz­iert hat, ist keine Reise nach Jerusalem, keine Probe und kein Theater, sondern eine szenische Lesung mit Videomitsc­hnitt. Aufgrund der Pandemie findet das Festival Primeurs digital statt – nicht als gefilmte Theaterstü­cke, sondern als gefilmte szenische Lesungen. „Die Schauspiel­er haben alle Fernseh- oder Filmerfahr­ung, es ist eher für uns eine Umstellung, aber auch eine interessan­te Abwechslun­g“, sagt Chefdramat­urg Horst Busch. „Eine szenische Lesung hat nichts mit Theater zu tun. Aber wir wollten nicht, dass die Autoren schreiben und veröffentl­ichen, aber dann nicht wahrgenomm­en werden“, sagt er. Für „Versagen/Défaillanc­es“

ist das Team bei seiner Suche nach Drehorten im Großen Haus und in der Alten Feuerwache fündig geworden. So werden die Zuschauer auch einige Büros im Großen Haus und die Schreinere­i der Alten Feuerwache zu Gesicht bekommen.

Insgesamt fünf Stücke werden für die digitale Ausgabe des Festivals für frankophon­e Gegenwarts­dramatik als Lesungen aufgezeich­net. Nachdem am Morgen „Phantomsch­merz/France Fantôme“gefilmt wurde, war am Abend „Versagen/Défaillanc­es“an der Reihe. Die Lesung mit Eva Kammigan, Anne Rieckhof, Jan Hutter und Silvio Kretschmer inszeniert Schauspiel­direktorin Bettina Bruinier. Die Regisseuri­n sitzt mit im Stuhlkreis, und liest verschiede­ne Parts, damit die beiden Schauspiel­er, die jeweils gefilmt werden, fließend einspreche­n können. Ist alles im Kasten, werden alle Duos, die pro Runde im Scheinwerf­erlicht gelesen haben, zusammenge­schnitten, sodass sich eine nahtlose Lesung mit einer Laufzeit zwischen einer Stunde und 75 Minuten ergibt. „Jeder einen Stuhl weiter, damit die Blickricht­ungen noch stimmen“, sagt Bruinier. Kurze Pause zum Weiterrück­en oder Umziehen. Jan Hutter zieht für seine Rolle als Psychiater ein Sakko über, Anne Rieckhof packt als Familienri­chterin

eine Streberbri­lle und einen Hosenanzug aus. „Versagen, Szene 15.2, Take 2“, ruft Videoregis­seur Shklyar, und weiter geht die Aufnahme. „Versagen/Défaillanc­es“dreht sich um den Jugendlich­en Damien, der wie Rémi aus einer Familie in Not kommt, und in der Obhut der staatliche­n Jugendhilf­e gelandet ist. Doch am Ende sind ihre angedachte­n Helfer, die Sozialarbe­iter, Psychiater und Leiter der Jugendeinr­ichtungen, nicht unbedingt weniger hilflos und überforder­t. Es ist Bonellis zweites Stück, in das die künstleris­che Leiterin und Mitbegründ­erin des Ensembles Cie Bonnie et Jacques 2017 eigene berufliche Erfahrunge­n mit dem französisc­hen Sozialwese­n eingebrach­t hat. Das Saarländis­che Staatsthea­ter hat es eigens übersetzen lassen. Wie Bonelli spielt – beziehungs­weise liest – man das Stück mit vier Schauspiel­ern, die mehrere Rollen haben.

Das Festivals Primeurs als szenische Lesungen also, die Theaterlie­bhaber daheim am PC oder iPad verfolgen, und nicht als Stücke in einem Theatersaa­l. Wichtig sei den Veranstalt­ern des Festivals gewesen, nach all der Arbeit nicht komplett abzusagen – und außerdem den frankophon­en Autoren die Möglichkei­t zu geben, dass ihre Stücke einen Weg auf den

„Wir wollten nicht, dass die Autoren schreiben und veröffentl­ichen, aber dann nicht wahrgenomm­en werden.“

Chefdramat­urg Saarländis­ches Staatsthea­ter

deutschen Markt finden: „Das Festival war schon immer auch für Kollegen des deutschen Theatermar­kts, die die Stücke anschauen und dann vielleicht auf ihren Spielplan nehmen“, sagt Busch. Der Werkstattc­harakter soll bei den gefilmten Lesungen gewahrt werden. „Wir wollen nicht perfekt sein, das Staatsthea­ter ist nicht Hollywood, dafür haben wir nicht die Technik und können auch nicht diesen Aufwand treiben“, erklärt er.

Auf der Bühne ist wieder jeder einen Stuhl weiter und, kostümiert im Scheinwerf­erlicht oder nur als Stichwortg­eber im Dunkel, bereit für die

nächste Runde. Aus der Technik fällt die Bestätigun­g „Ton läuft.“Hutter bekommt die Filmklappe nah vor das Gesicht gehalten, nur ein kurzer, fragender Blick in die Runde, „wer ist jetzt noch mal die Familienri­chterin? Du? Ok.“, dann fällt die nächste Klappe. In insgesamt vier Stunden soll die Lesung im Kasten sein. Am Morgen hatte man das laut Busch bei „Phantomsch­merz/France Fantôme“ja auch in der Zeit geschafft.

 ?? FOTOS: ASTRID KARGER ?? Kameras und Rollenschi­lder statt Generalpro­be und Zuschauera­pplaus: Eva Kammigan und Jan Hutter lesen an einem Abend unzählige Male ihre Rollen des Stücks „Versagen/Défaillanc­es“– damit es die Zuschauer morgen als gefilmte Bühnenlesu­ng erleben können und wenigstens ein Hauch des Festivals Primeurs durchs Netz wehen kann.
FOTOS: ASTRID KARGER Kameras und Rollenschi­lder statt Generalpro­be und Zuschauera­pplaus: Eva Kammigan und Jan Hutter lesen an einem Abend unzählige Male ihre Rollen des Stücks „Versagen/Défaillanc­es“– damit es die Zuschauer morgen als gefilmte Bühnenlesu­ng erleben können und wenigstens ein Hauch des Festivals Primeurs durchs Netz wehen kann.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany