Das Festival Primeurs findet diesmal digital statt: Wie die szenischen Lesungen gefilmt werden.
Absagen kam nicht infrage: Das Festival Primeurs findet diesmal digital statt, dazu werden die Theaterstücke der Autoren als szenische Lesung gefilmt. Es braucht vier Stunden und viel Mut zur Wiederholung, bis eine Lesung im Kasten ist.
Sieben Frauen und Männer sitzen im Kreis auf der Bühne der Alten Feuerwache, die schwarz und dekorationslos ist. Ihr Thema, das Schicksal eines achtjährigen Jungen namens Rémi. „Die Tagesklinik kann Rémi nicht aufnehmen“, liest ein Schauspieler aus seinem Stückbuch ab. Er spricht die Rolle des Kindertherapeuten. „Warum geben wir ihn nicht seiner Mutter zurück?“, fragt sein Gegenüber, die Schauspielerin, welche die Jugendamtsleiterin liest, und sich auf ihrem Stuhl zurücklehnt. „Rémi ist ein Musterbeispiel für das Versagen des Systems zum Schutze der Kindheit, das spürt man auch an der Aggressivität um diesen Tisch herum“, klingt verdächtig nach der Psychologin im Stück. Gegenfrage der Sitznachbarin mit der nervösen Sekretärinnenrolle: „Zucker?“
Nur zwei der Schauspieler werden mit Scheinwerfern hell erleuchtet, die anderen sitzen im Dunkel der Bühne. Das Licht braucht Videoregisseur Grigory Shklyar, um sie mit einer Kamera zu filmen. Ist die Szene durchgesprochen, rückt jeder auf den Stuhl des Nachbarn, dann beginnt die Diskussion um Rémi von vorne. Alle blättern ihre Textseiten zurück, und schlagen die Titelseite, auf der „Versagen/Défaillances“von Blandine Bonelli steht, um. Nun sitzen zwei andere Darsteller im Scheinwerferlicht der Kamera. Techniker geben noch letzte Hinweise zu den Mikros, die die Schauspieler tragen, dann ist der Saal von Konzentration und Stille erfüllt. Shklyar hält eine Filmklappe vor die Kamera, das heißt los. „Es stimmt schon, dass der Umbau zum Großraumbüro das gesamte Team geschwächt hat“, sagt die Schauspielerin, die jetzt die Psychologin liest, und zu leeren Publikumsreihen blickt. „In meiner Abteilung treffe ich die Entscheidungen“, ruft der Kindertherapeut aus dem Stuhlkreis zurück. „Soll das als Schlusssatz ins Protokoll?“Zumindest nicht für diese Aufnahme. Die Szene ist zwar zu Ende, aber jeder rückt eins weiter, und die Lesung beginnt wieder von vorn.
Was das Team des Saarländischen Staatstheaters am vergangenen Freitagabend in der Alten Feuerwache immer
Horst Busch wieder durchexerziert hat, ist keine Reise nach Jerusalem, keine Probe und kein Theater, sondern eine szenische Lesung mit Videomitschnitt. Aufgrund der Pandemie findet das Festival Primeurs digital statt – nicht als gefilmte Theaterstücke, sondern als gefilmte szenische Lesungen. „Die Schauspieler haben alle Fernseh- oder Filmerfahrung, es ist eher für uns eine Umstellung, aber auch eine interessante Abwechslung“, sagt Chefdramaturg Horst Busch. „Eine szenische Lesung hat nichts mit Theater zu tun. Aber wir wollten nicht, dass die Autoren schreiben und veröffentlichen, aber dann nicht wahrgenommen werden“, sagt er. Für „Versagen/Défaillances“
ist das Team bei seiner Suche nach Drehorten im Großen Haus und in der Alten Feuerwache fündig geworden. So werden die Zuschauer auch einige Büros im Großen Haus und die Schreinerei der Alten Feuerwache zu Gesicht bekommen.
Insgesamt fünf Stücke werden für die digitale Ausgabe des Festivals für frankophone Gegenwartsdramatik als Lesungen aufgezeichnet. Nachdem am Morgen „Phantomschmerz/France Fantôme“gefilmt wurde, war am Abend „Versagen/Défaillances“an der Reihe. Die Lesung mit Eva Kammigan, Anne Rieckhof, Jan Hutter und Silvio Kretschmer inszeniert Schauspieldirektorin Bettina Bruinier. Die Regisseurin sitzt mit im Stuhlkreis, und liest verschiedene Parts, damit die beiden Schauspieler, die jeweils gefilmt werden, fließend einsprechen können. Ist alles im Kasten, werden alle Duos, die pro Runde im Scheinwerferlicht gelesen haben, zusammengeschnitten, sodass sich eine nahtlose Lesung mit einer Laufzeit zwischen einer Stunde und 75 Minuten ergibt. „Jeder einen Stuhl weiter, damit die Blickrichtungen noch stimmen“, sagt Bruinier. Kurze Pause zum Weiterrücken oder Umziehen. Jan Hutter zieht für seine Rolle als Psychiater ein Sakko über, Anne Rieckhof packt als Familienrichterin
eine Streberbrille und einen Hosenanzug aus. „Versagen, Szene 15.2, Take 2“, ruft Videoregisseur Shklyar, und weiter geht die Aufnahme. „Versagen/Défaillances“dreht sich um den Jugendlichen Damien, der wie Rémi aus einer Familie in Not kommt, und in der Obhut der staatlichen Jugendhilfe gelandet ist. Doch am Ende sind ihre angedachten Helfer, die Sozialarbeiter, Psychiater und Leiter der Jugendeinrichtungen, nicht unbedingt weniger hilflos und überfordert. Es ist Bonellis zweites Stück, in das die künstlerische Leiterin und Mitbegründerin des Ensembles Cie Bonnie et Jacques 2017 eigene berufliche Erfahrungen mit dem französischen Sozialwesen eingebracht hat. Das Saarländische Staatstheater hat es eigens übersetzen lassen. Wie Bonelli spielt – beziehungsweise liest – man das Stück mit vier Schauspielern, die mehrere Rollen haben.
Das Festivals Primeurs als szenische Lesungen also, die Theaterliebhaber daheim am PC oder iPad verfolgen, und nicht als Stücke in einem Theatersaal. Wichtig sei den Veranstaltern des Festivals gewesen, nach all der Arbeit nicht komplett abzusagen – und außerdem den frankophonen Autoren die Möglichkeit zu geben, dass ihre Stücke einen Weg auf den
„Wir wollten nicht, dass die Autoren schreiben und veröffentlichen, aber dann nicht wahrgenommen werden.“
Chefdramaturg Saarländisches Staatstheater
deutschen Markt finden: „Das Festival war schon immer auch für Kollegen des deutschen Theatermarkts, die die Stücke anschauen und dann vielleicht auf ihren Spielplan nehmen“, sagt Busch. Der Werkstattcharakter soll bei den gefilmten Lesungen gewahrt werden. „Wir wollen nicht perfekt sein, das Staatstheater ist nicht Hollywood, dafür haben wir nicht die Technik und können auch nicht diesen Aufwand treiben“, erklärt er.
Auf der Bühne ist wieder jeder einen Stuhl weiter und, kostümiert im Scheinwerferlicht oder nur als Stichwortgeber im Dunkel, bereit für die
nächste Runde. Aus der Technik fällt die Bestätigung „Ton läuft.“Hutter bekommt die Filmklappe nah vor das Gesicht gehalten, nur ein kurzer, fragender Blick in die Runde, „wer ist jetzt noch mal die Familienrichterin? Du? Ok.“, dann fällt die nächste Klappe. In insgesamt vier Stunden soll die Lesung im Kasten sein. Am Morgen hatte man das laut Busch bei „Phantomschmerz/France Fantôme“ja auch in der Zeit geschafft.