Der Weltrekord kribbelt in den Fingern von „Jojo“
Speerwerfer Johannes Vetter ist einer der herausragenden Leichtathleten in diesem Pandemie-Jahr und peilt in Tokio Olympiagold an.
(dpa) Der Besuch beim Mediziner ist dem derzeit besten Speerwerfer der Welt endlich mal erspart geblieben. „Es ist das erste Mal seit mehreren Jahren, dass ich nach der Saison nicht zur Nachbehandlung zum Arzt musste“, sagt der Speerwurf-Weltmeister von 2017, Johannes Vetter. „Das macht Mut für das Olympia-Jahr 2021.“
Zumal ihm ausgerechnet im außergewöhnlichen Corona-Jahr eine Glanztat in der Leichtathletik gelang. Am 6. September schnellte er seinen Speer im polnischen Chorzów auf 97,76 Meter und verfehlte den 24 Jahre alten Weltrekord von Jan Zelezny (Tschechien) nur um 72 Zentimeter. Nach diesem großen Wurf ist er nun der Topfavorit bei den Sommerspielen in Tokio.
„Die obere Priorität ist, gesund zu bleiben und Olympia-Gold anzugreifen“, betonte der 27 Jahre alte Vetter, der aber auch noch ein anderes ambitioniertes Ziel hat. „Natürlich kribbelt der Weltrekord in den Fingern. Wenn man schon so weit geworfen hat und es nur an ein paar Stellen nicht ganz optimal gewesen ist, will man das ausreizen.“Bundestrainer Boris Obergföll aus dem saarländischen Ludweiler, der unter seinem Geburtsnamen Boris Henry einst ebenfalls ein Weltklasse-Athlet war, traut ihm das zu: „Johannes besitzt das Potenzial für den Rekord. Er hat die nötigen Reserven.“
Den verblüffenden Leistungssprung hat Vetter, den alle nur „Jojo“rufen“, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Einschränkungen der Pandemie gemacht. Statt sonst 20 absolvierte er nur etwa halb so viele Wettkämpfe. Im Training hatte er Zeit, an der Technik zu feilen und hatte zudem kaum Medienund Sponsorentermine. Außerdem kam er in der extremen Corona-Zeit nach dem Verletzungspech der vergangenen Jahre und einem familiären Schicksalsschlag 2018 besser zurecht. „Da war diese Situation leichter für mich anzunehmen“, sagte der gebürtige Dresdner, der in der Saison 2015 für den SV schlau. com Saar 05 Saarbrücken startete. „Durch die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio habe ich mein Durchhaltevermögen und meinen Ehrgeiz nicht verloren.“Im Gegenteil: „Mein Ziel ist der Olympiasieg, alles andere wäre unglaubwürdig.“
Die Freude und der Spaß am Speerwerfen seien zurückgekehrt.
„Und dann kam eins und eins zusammen – und ich bin in einen schönen Flow gekommen, wo alles gepasst hat“, sagt Vetter. Neun Siege in sechs Wochen – darunter drei Erfolge mit Würfen über jeweils 90 Meter – sind seine starke Bilanz, die auch World Athletics honorierte: Der Weltverband nominierte ihn für die Wahl zum Welt-Leichtathleten des Jahres. „Ich gehe mit der Wahlnominierung bescheiden um“, meinte der Ausnahmewerfer der LG Offenburg.
Indes mangelt es ihm nicht an Motivation für das Projekt Olympia. „Klar fällt es einem leichter, mit fast 98 Metern im Rücken das Training im Hinblick auf die Tokio-Spiele aufzubauen“, sagt Vetter. Daraus wolle er aber kein besonderes Ding machen. „Ich werde solide weitertrainieren, ohne dass mir der eine Wurf zu Kopf steigen würde.“Dafür sei er nicht der Typ. „Außerdem ist Speerwerfen wie Surfen: Jeder kann Wellenreiten, und wer die beste Welle bekommt, der liefert die beste Tagesleistung“, betont er.
Wie viele andere Topsportler hat auch Vetter Einnahmeverluste, ist dennoch ganz gut durch die Corona-Krise gekommen. „Wenn ich mich persönlich beschweren würde, wäre es Klagen auf hohem Niveau. Ich habe in diesem Jahr mit meinen Leistungen eine gute Grundlage gelegt“, sagte er. Viele Athleten hätten keine Wettkämpfe gehabt und seien eingeschränkter im Training gewesen. „Die Einbrüche sind auch bei mir groß, weil viele Antrittsgelder und Prämien fehlen. Auch Sponsoren müssen ihre Zuwendungen kürzen“, erklärte Vetter. „Für viele ist das aber ein hartes Jahr. Es wird Sportlerexistenzen kosten.“
Vetter erwartet, dass sich die Mehrzahl der Athleten vor den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gegen das Coronavirus impfen lässt. „Ich gehe davon aus, dass viele
Sportler das machen werden“, sagte der 28 Jahre alte Speerwerfer im Interview der „Welt am Sonntag“. Schließlich würden sich die Sportler mittlerweile das fünfte Jahr auf die Spiele in Tokio vorbereiten, „da nehmen wir natürlich alle Entbehrungen auf uns“.
Mehr Klarheit hätte Vetter aber gern, was im Falle eines Corona-Falls unter den Athleten bei den Sommerspielen geschehen würde: „Im Fußball werden Ligaspiele abgesagt – was passiert mit mir als Einzelsportler bei den Spielen? Wird das Finale verschoben? Oder werde ich disqualifiziert?“Vom Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Thomas Bach, der Vetter vor wenigen Wochen überraschend angerufen hatte, habe er keine richtige Auskunft dazu bekommen. „Auf meine Frage, was denn passieren würde, wenn ein Sportler kurz vor dem Wettkampf Symptome zeigt oder gar positiv auf Corona getestet wird, sagte Bach nichts“, berichtet der WM-Champion von 2017.
Wenig Hoffnung hat er, dass es ein olympisches Dorf in Tokio mit mehr als 10 000 Athleten aus aller Welt geben wird. „Olympia ist zwar eine Zusammenkunft von Nationen, Kulturen, Religionen, alle vereint unter dem olympischen Gedanken“, sagte Vetter. „Aber selbst innerhalb des deutschen Teams wird es Einschränkungen geben. Das ist dann halt so. Dann muss man das Olympiasieger-Bier eben allein mit dem Trainer trinken.“Boris Obergföll, der ehemalige „Bär aus dem Warndt“, würde im Fall der Fälle sicher nichts dagegen haben.