Die Geheimnisse des Dillinger Triptychons
Nur drei Tage im Jahr kann man das „Dillinger Triptychon“üblicherweise sehen. Dieses Weihnachten sollte das sagenumwobene Altarbild aus dem 16. Jahrhundert in der Völklinger Hütte endlich einem Massenpublikum gezeigt werden. Doch Corona schloss „Die Hei
Es fiel der Pfarrei Heilig Sakrament in Dillingen nicht leicht, ihren jahrhundertealten KunstSchatz erstmals aus der Hand zu geben. 362 von 365 Tagen im Jahr liegt das Gemälde, das zwischen 1516 und 1520 entstanden sein dürfte, lichtgeschützt im Dunkel. Nur an drei Tagen wird es alle Jahre wieder in der Weihnachtszeit im Dillinger „Saardom“aufgebaut, in der größten katholischen Kirche der Region: am ersten Weihnachtsfeiertag, am 1. und am 6. Januar. Was sich immer wieder den Blicken entzieht, entwickelt ein Geheimnis und wird kostbar. Womöglich deshalb taucht „Die Heilige Familie“in nicht wenigen
Veröffentlichungen als das „bedeutendste“Kunstwerk des Saarlandes auf, gerne auch als das „berühmteste“. Was kurios ist, denn wer kennt es?
Einige Kunsthistoriker, die dem Rätsel seiner Herkunft und Urheberschaft nachforschten, und natürlich eine Vielzahl Gläubiger, eine Art Stammkundschaft und Fanclub, die, wie man hört, jedes Jahr extra aus dem gesamten Saar-Lor-Lux-Raum anreist, und sich dicht an dicht vor der dreiflügeligen Holztafel drängen. In Corona-Zeiten nicht vorstellbar. Pastor Gerhard Jacob berichtet, dass die Pfarrei das Triptychon trotzdem auch in diesem Jahr gezeigt hätte. „Aber wir wussten, durch die Hygiene-Regeln hätten es dann noch viel weniger Menschen sehen können. Das gab dann mit den Ausschlag, dass wir es als Leihgabe nach Völklingen gegeben haben, in die ,Mon Trésor’-Ausstellung.“
In Kauf genommen wurden zeitaufwändige Vertragsarbeiten. „Wir hofften, dass das Bild im Weltkulturerbe auch über die Weihnachstage so viele Menschen mehr hätten anschauen können, wir hätten auch mal ein ganz anderes, nicht typisches Kirchen-Publikum erreicht.“Doch es kam ganz anders, das nennt man wohl Ironie des Schicksals: Die aus dem Tresor in Dillingen befreite „Heilige Familie“landete im wahrsten Sinne des Wortes wieder in einem Tresor. „Sakrale Kunst“steht über dem feierlich inszenierten Kabinett in der Gebläsehalle, die Leuchtschrift ist erloschen, im November schlossen sich die Türen. Mehr als bang die Frage, ob die bereits komplett eingerichtete Schau „Mon Trésor“überhaupt noch öffnen wird.
Pastor Jacob wird über all dem „ein bisschen wehmütig“, wie er sagt. Ihn erinnere das an John Cages Musikstück 4’33’’ – eines, das nicht gespielt wird. „Niemand schaut das Bild jetzt an. Und ich vermisse es, es fehlt mir. Ich hätte es gerade jetzt hier vor Ort in dieser Corona-Krise gebraucht.“Stattdessen verharrt „Die Heilige Familie“einsam in einer Art Quarantäne im Museum. Vater, Mutter, Kind, die drei Weisen, Engel – auf dem Bild begegnet man dem Standard-Personal der Ankunft Jesu. Es ist dies das für Christen freudigste und am stärksten mit Hoffnung ver- bundene Ereignis. Die Darstellung sucht dafür nicht, wie die Mehrzahl ähnlicher Motive aus der Renaissance-Epoche, nach individuellen Zeichen, vieles bleibt Schema. Eine Kunsthistorikerin, die sich in den 60er-Jahren mit dem Bild befasste, kam zu einem wenig schmeichelhaften Urteil: Die Madonnenfiguren seien „von verhältnismäßiger Gleichförmigkeit, von einer sanften, etwas geistesabwesenden Verschlossenheit“, das Christuskind hält sie für „nicht gerade lieblich“, Josef schaue „missmutig“, und die drei Könige zeigten einen „etwas verdrossenen Gesichtsausdruck“. Der ästhetische Reiz liegt bekanntlich im Auge des Betrachters, Fakten nicht. Doch just die sind rar zum Dillinger Triptychon, denn es ist unsigniert und undatiert, und ungeklärt ist auch, wie und wann genau es nach Dillingen kam.
In diesem Fall mag dies mehr Segen als Fluch sein, denn nur so kam das Triptychon zu seinem legendären Ruf. Gerüchte verstärkten das Faszinosum. Was lässt sich als weitgehend gesichert erachten?
Lütticher Eisengießer – Facharbeiter, die von der 1685 gegründeten Dillinger Hütte angeworben wurden – brachten das Altarbild wohl mit. Die Familie de Lenoncourt, der Hütte und Altes Schloss gehörten, erwarb es etwa 1710 für die Schlosskapelle. Als Grundherren folgten irgendwann die Lasalles. Angeblich haben die Erben von Albert Lasalle das Bild 1787 dem damaligen Pfarrer und Freund Johann Michael Theis geschenkt.
Zuerst hing es in der Kirche der heiligen Luzia, dann in der Odilienkapelle. Erstmals taucht es 1837 in einem Kirchen-Inventarium auf, 1928 notiert ein Pfarrer: „Altes, dreiflügeliges Altarbild, auf Holz gemalt, (…) glühende Farben, teilweise stark beschädigt. Bis jetzt noch keine Notiz über Herkunft gefunden, vielleicht 16. Jhd.“
Doch zwischenzeitlich waren bereits erste Geschichten im Umlauf, die dem Triptychon einen mystischen Glanz gaben, zumal es 1919, nach Abriss der Odilienkapelle, aus der Öffentlichkeit verschwand. Die Rede war von „Flüchtlingen“des Spanisch-Niederländischen Krieges (1568 – 1648), die das Bild mitgebracht haben sollen, auch erzählte man sich von „Zinnmädchen“– Hüttenarbeiterinnen, die sich darum stritten, wer bei der Fronleichnamsprozession das Triptychon würde tragen dürfen. Und männliche Jugendliche sollen magisch angezogen worden sein. Um das Motiv in der fensterlosen Odilienkapelle besser zu erkennen, erkletterten sie regelmäßig heimlich den Altar.
Doch irgendwann war „Die Heilige Familie“verschwunden. Man verwahrte das Kunstwerk im Pfarrhaus, wo es auf seinen Auftritt in einer neuen Kirche wartete, dem zwischen 1910 und 1913 erbauten „Saardom“. Während der Evakuierung im Zweiten Weltkrieg landete es wieder im Keller des Pfarrhauses, wurde unter der Kellertreppe eingemauert. Erst in den 50er-Jahren entstand ein größeres öffentliches Interesse, als der Speyerer Religionsprofessor Franz Klimm in Dillingen per Brief nach einem „Flügelaltärchen“fahndete und die Vermutung äußerte, es könne sich um ein Frühwerk „des berühmten holländischen Graphikers Lucas van Leyden (1494 bis 1533) handeln. Obwohl Nachforschungen der Pfarrei keine Bestätigung ergaben, explodierten die Mutmaßungen.
Über Jahrzehnte weitergetragen, verfestigten sie sich in den 80er-Jahren zur vermeintlich historischen Wahrheit: Das „Dillinger Triptychon“war ein immenser KunstSchatz! Wasser in den Wein goss erst 2010 die Kunsthistorikerin Michaela Mazurkiewicz-Wonn, die deutlich machte, dass der „Meister“van Leyden als Urheber ausgeschlossen werden kann. Mittlerweile gilt als sicher, dass das Bild aus der Werkstatt des flämischen Malers Pieter Coecke van Aelst (1502 – 1550) stammt.
Für diejenigen, die jährlich in den Saardom pilgern, spielt all dies vermutlich eine untergeordnete Rolle. Sie kommen, obwohl mehrflügelige Altarbilder keine Seltenheit sind und das Dillinger Exemplar mit einer Breite von kaum mehr als einem Meter keineswegs zu den imposanten seiner Art zählt. Schätzen die Menschen das Triptychon, weil es das einzige dreiflügelige Altarbild im Saarland ist? Wohl eher liegt es am Motiv.
In der christlichen Bildsprache sind Innigkeit, Zuneigung und Zärtlichkeit rar, doch für die Darstellung der Weihnachtsgeschichte geben sie den Grundton vor, die Künstler folgen einem emotionalen Drehbuch. Die Familie erhält ihr eigenes, intimes Reich, ein profanes Universum, das allen Menschen vertraut ist und das göttlich aufgewertet wird. Pastor Jacob spricht von einer „inneren“Wirklichkeit, die sich im Dillinger Triptychon wiederfinde. „Gottes MitSein“mit Maria und Josef in einer schwierigen menschlichen Situation werde ausgedrückt durch „Engel, Geschenke, menschenfreundliche Begleiter. Alles wird gut.“
„Niemand schaut das Bild jetzt an. Und ich vermisse es, es fehlt mir. Ich hätte es gerade jetzt hier vor Ort in dieser Corona-Krise gebraucht.“Gerhard Jacob Pastor der Pfarrei Heilig Sakrament