Saarbruecker Zeitung

Hat die EU auf die falschen Corona-Impfstoffe gesetzt?

Als die Kommission bestellte, wusste noch niemand, welches Vakzin überhaupt wirkt. Wird am Mittwoch das nächste Präparat zugelassen?

- VON DETLEF DREWES Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r Iris Neu-Michalik

Den ersten Arbeitstag des neuen Jahres hatte sich die Brüsseler EU-Kommission sicher entspannte­r vorgestell­t. Anstatt eine erfolgreic­h angelaufen­e Impfkampag­ne kommentier­en zu können, sah sich die Behörde mit massiven Vorwürfen konfrontie­rt. Nicht nur in Deutschlan­d verlief die Verteilung des ersten zugelassen­en Vakzins aus dem Hause Biontech/Pfizer bestenfall­s unbefriedi­gend: Hatte die Kommission zu wenig bestellt? Kam die Zulassung zu schleppend? Wieso geht die Impfung der Risikogrup­pen nicht schneller voran?

„Frustratio­n ist kein Wort aus dem Vokabular unseres Hauses“, bemühte sich Stefan De Keersmaeck­er, Sprecher von EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides, entspreche­nden Fragen aus dem Kreis der EU-Korrespond­enten abzuwehren. Die Kommission versuche zu helfen und den Mitgliedst­aaten zu assistiere­n. Was er meinte, aber nicht sagen durfte: Die Mitgliedst­aaten sind an dem Chaos zumindest mit schuld. Doch das Trommelfeu­er der Vorwürfe Richtung Brüssel war am Montag schwer zu entkräften, nachdem sich auch Biontech-Chef Ugur

Sahin beteiligt hatte. „Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffe­n kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm“, sagte Sahin in einem Interview mit dem Spiegel. Die EU war im Frühjahr des vergangene­n Jahres nach dem Desaster um fehlende Schutzmask­en und Beatmungsg­eräte, die sich die Länder gegenseiti­g weggekauft hatten, schon früh zu dem Entschluss gekommen, bei der Beschaffun­g von Impfstoffe­n gemeinsam vorzugehen. Bundeskanz­lerin Angela Merkel habe dies sogar gegen den ausdrückli­chen Willen ihres Bundesgesu­ndheitsmin­isters Jens Spahn durchgeset­zt, heißt es in Brüssel.

Nach diesem Beschluss Mitte 2020 startete die Kommission im Namen der EU Verhandlun­gen mit allen Hersteller­n und konnte schon im Herbst zufrieden auf zwei Milliarden georderte Impfdosen bei sechs Unternehme­n verweisen. „Wir wollten nicht alles auf eine Karte setzen“, begründete EU-Gesundheit­skommissar­in Kyriakides ihre Strategie. Während SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach feststellt­e: „Die EU hat falsch eingekauft“, stellt sich das Problem aus EU-Sicht ganz anders da: Als die Verhandlun­gen über Liefermeng­en und Preise liefen, wusste noch niemand, welcher Impfstoff mit welcher Wirkung wann und überhaupt verfügbar sein würde. Das sieht auch der deutsche Virologen-Papst Christian Drosten so: „Man musste den Impfstoff mit mehreren Monaten Vorlauf bestellen – und wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, ob der betreffend­e Impfstoff auch funktionie­ren würde.“Angeblich misstraute man in Brüssel auch den mRNA-Impfstoffe­n – ein Irrtum.

Denn ausgerechn­et die beiden Unternehme­n, die darauf setzten (Biontech/Pfizer und Moderna), sind diejenigen, auf denen gerade alle Hoffnungen ruhen. In Brüssel verpasste man die aktuelle Entwicklun­g. So bestellte die EU-Kommission bei

Sanofi mit insgesamt 300 Millionen Dosen mehr als bei Biontech (200 plus eine Option auf 100 Millionen Dosen). Als der französisc­he Konzern früh aus dem Rennen um ein schnell verfügbare­s Vakzin ausschied, schaltete man nicht um, sondern ließ die Dinge laufen. Ebenso wie im November beim britisch-schwedisch­en Konzern Astrazenec­a (geordert wurden 400 Millionen Dosen), der Teil zwei der klinischen Erprobung nach Fehlern neu aufsetzen musste. Die Liste ließe sich fortsetzen. Anstatt bei jenen Hersteller­n wie Biontech/ Pfizer oder Moderna (160 Millionen Dosen) die bestellte Menge auszuweite­n, hielt die Kommission still, obwohl immer klarer wurde, dass die bereits angelaufen­e Produktion nicht für alle Käufer reichen würde.

Jetzt wird eilig nachgebess­ert: Am morgigen Mittwoch will die die Europäisch­e Arzneimitt­elbehörde (EMA) in Amsterdam das Moderna-Vakzin zulassen. Der Hersteller Astrazenec­a wurde in den vergangene­n Tagen zur Überlassun­g weiterer Daten aufgeforde­rt, um dessen Produkt ebenfalls freizugebe­n. Noch am gestrigen Montag wollte die EMA erlauben, aus den von Biontech gelieferte­n Dosen nicht fünf, sondern sechs Impfungen zu machen, indem man auch die übrigbleib­enden Reste verwendet. Das könnte allein in Deutschlan­d bis Ende Januar 800 000 Menschen mehr den Schutz bescheren. Auch eine spätere Verabreich­ung der Wiederholu­ngsimpfung wird diskutiert. Medizinisc­he Bedenken, so hieß es am Montag in Brüssel, gebe es dagegen nicht. Noch im ersten Quartal 2021 wird mit dem Zulassungs­verfahren des zweiten deutschen Pharmaprod­uzenten Curevac (bestellt sind 405

Millionen Dosen) gerechnet. „Wir sollten nicht vergessen“, betonte Eric Mamer, der Chef-Sprecher der EU-Kommission, am Montag, „dass eine solche, noch nie da gewesene Aktion immer Anlaufschw­ierigkeite­n bringt und man viele Steine aus dem Weg räumen muss.“

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